Indien: Verhungern im Schatten des Wirtschaftsbooms

 
Meldung vom 19.04.2011

Romatas Kleider bedecken ihr kleines Grab aus roten Sandsteinen: ein schwarzes Hemd, eine grüne Mütze und Unterwäsche. Mehr Kleider hatte das zwölf Monate alte Mädchen nicht. Am Grab steht Romatas Vater, Tränen laufen über seine Wangen. Vor Stunden noch hielt er seine Tochter lebend in den Armen. „Ich hatte keine Ahnung, dass sie sterben würde“, klagt Chunbad Mawabi, ein 25-jähriger Landarbeiter im Dorf Patni im indischen Bundesstaat Madhya Pradesh.

Keine Ahnung? Romata war abgemagert bis aufs Skelett, hatte einen dicken Bauch und bräunliche Haare – klare Anzeichen von Hunger und Unterernährung. War dem Vater wirklich nicht bewusst, dass seine Tochter kurz vorm Hungertod stand? Wollte er vor Romatas Elend die Augen verschließen? So wie die indische Regierung und die ganze Welt an dem Elend des Landes vorbeischaut?

„Den Hunger haben wir fast überall in Indien besiegt“,
lautet die Parole des indischen Innenministers Palaniappan Chidambaram. Der Satz ging durch die Medien, genau an dem Tag, an dem Romata jämmerlich gestorben war. Solche Sätze erwidern Regierungspolitiker meist, wenn sie zu der Hungersnot im Land Auskunft erteilen sollen. Aber der Satz ist eine Lüge. Eine, die oft ausgesprochen und oft geglaubt wird.

Kürzlich erst hat die Weltbank bekannt gegeben, dass Indien im kommenden Jahr die am schnellsten wachsende Volkswirtschaft der Welt sein wird. Spätestens seit der westlichen Finanzkrise handelt man Indien als demokratisches, marktwirtschaftliches Erfolgsmodell. Neun Prozent Wachstum sagt die Regierung in Neu-Delhi auch für das kommende, im April beginnende Berichtsjahr voraus. Lauter Erfolgsnachrichten dringen an die Öffentlichkeit. Nur verhungern deshalb nicht weniger Kinder in Indien.

Jeden Tag sind es nach Angaben von Unicef 4.657 Kinder, die sich wie Romata still und unbemerkt aus dem Leben verabschieden. Man kann ihrem Sterbeprozess überall im Land zusehen, mit ihren winzigen aufgeblähten Bäuchlein und ihren fingerdünnen Gliedmaßen. In der Statistik findet sich ihr Schicksal in der Kindersterblichkeitsrate wieder, dem sichersten Anzeichen für Hungersnot. Auf 1.000 Geburten gerechnet, kommen in Indien 66 Kinder ums Leben, bevor sie das Alter von fünf Jahren erreichen – in Deutschland sind es weniger als vier.

Bei knapp 27 Millionen Geburten muss Indien also 1,7 Millionen tote Kinder im Jahr verschmerzen. Für rund 90 Prozent ist die Todesursache Hunger, so Entwicklungsexperten. Das sind Todeszahlen wie im Weltkrieg, mehr als je unter Mao Tse-tung beim berüchtigten „Großen Sprung nach vorn“ verhungert sind. Das Problem ist eigentlich einer der größten Menschenrechtsskandale der Welt.

Indien ist heute ein wohlhabendes Land, das alle Mittel hat, seinen Nachwuchs ausreichend zu ernähren. Es ist so reich, dass es Entwicklungshilfe aus den meisten Industrieländern ablehnt und schon nach dem großen Tsunami im Jahr 2005 alle Hilfe aus dem Ausland zurückwies. Eben diese Haltung führt aber zur Verharmlosung des Problems – vor allem unter Ökonomen. Viele von ihnen glauben naiv, das große Wachstum werde die Probleme schon irgendwie beseitigen.

In Madhya Pradesh zeigt sich die Wirklichkeit von einer anderen Seite als der des Wirtschaftsbooms. Nirgendwo auf der ganzen Welt ist die Kindersterblichkeit – und damit die Hungersnot – höher als dort. Nur mit Bildern und Zahlen aus Äthiopien kann man das Elend dort vergleichen. Das Hungerleiden in Madhya Pradesh ist, anders als in Äthiopien, in der weltweiten Öffentlichkeit nahezu unbekannt. Hier wird der Hunger gut versteckt.

Man kann jenseits der pulsierenden Provinzhauptstadt Bhopal tagelang auf neuen Straßen durch seit Jahrtausenden kultivierte Landschaften rasen. Man kann einen der fünf berühmten Tiger-Safariparks von Madhya Pradesh anschauen und sich auf die Spuren von Rudyard Kipling begeben, der hier das „Dschungelbuch“ verfasste. Unterwegs sieht man in dieser Jahreszeit Felder mit dichtem Weizen und gelb blühendem Senf. Ein Hungerland, so erscheint es dem flüchtigen Besucher, sieht anders aus.

Doch sobald man von der asphaltierten Überlandstraße mit ihren sich entwickelnden Städtchen und Marktflecken abzweigt, über Feldwege holpert und in einem Dorf wie Patni Pause macht, erblickt man plötzlich eine andere, vergessene Welt. In ihr lebt die Mehrheit der indischen Bevölkerung in bitterster Armut und Kastendiskriminierung. In ihr hat Vater Mawabi mit seiner kleinen Tochter Romata Hunger gefristet. Gemeinsam mit seinem Bruder hat Mawabi einen Hektar Land zu bearbeiten. Der Ertrag reicht lange nicht für zwei Familien. Dem Bruder starben bereits zwei Kinder. Jetzt war Romata an der Reihe.

Mawabi deutet auf einen kleinen Sack Reis und einen etwas größeren Sack Weizen. „Das ist alles, was wir zum Essen haben“, sagt er. „Keine Linsen, keine Bohnen.“ Die staatliche Lebensmittelversorgung funktioniert nicht. Die Rationen kommen willkürlich und sind immer zu klein. Das Scheitern der staatlichen Hilfe enttäuscht auch diejenigen, die sie in der Hauptstadt Delhi geplant haben. Zu ihnen gehört der indische Ökonom Jean Drèze von der Delhi School of Economics. Er war Initiator des ländlichen Arbeitsbeschaffungsprogramms.

Drèze ist heute verbittert: Er klagt die demokratische Elite in Delhi an, für das Hungerleiden verantwortlich zu sein. Hunger und Unterernährung seien für die Entscheidungsträger unter Premierminister Manmohan Singh nur noch „peinlich“, kritisiert Drèze, und „absolut nicht prioritär“. Die Regierung stünde nicht mehr hinter den eigenen Sozialprogrammen und halte sie für Geldverschwendung. „Es gibt keinen Glauben mehr an öffentliche Programme, keinen an die öffentliche Schule und auch keinen an die öffentliche Gesundheitsversorgung“, meint Drèze.

Verantwortlich für die Misere ist besonders das diskriminierende Kastensystem, aus dem man in Indien nicht ausbrechen kann. Für eine Familie im Dorf Ajitpur im landwirtschaftlich geprägten Kreis Damoh in Madhya Pradesh gibt es nur Weizenbrot zu essen, obwohl ringsherum relativer Wohlstand herrscht. Es ist die beste Jahreszeit, noch gibt es ausreichend Brunnenwasser für die Felder. Es gedeiht viel Gemüse. Das zahlreiche Vieh in Ajitpur – Kühe und Wasserbüffel – ist gut beleibt. Die meisten Kinder im Dorf dagegen sind dürr und ausgemergelt. Tiere, Felder und Gemüse sind Eigentum der 50 Brahmanen- und Yadavfamilien von Ajitpur. Sie gehören zu den höheren Kasten. Die meisten Kinder hier aber zählen zur untersten Kaste, zu den 100 Familien der Unberührbaren im Dorf. Sie müssen inmitten des Reichtums hungern.

Anhand von Ajitpur lassen sich zwei Gründe für das fortwährende Elend feststellen: die unvollständige Landreform und das Kastensystem. Zwar musste in Ajitpur vor Jahren der Großgrundbesitzer sein Land abtreten. Aber bei der anschließenden Landverteilung erhielten die Unberührbaren – die Mehrheit im Dorf – nichts. Zudem wurde auch das Stigma aufrecht erhalten, mit dem die niedrigste Kaste abgestempelt wird. So muss Avadhrani, die Frau Ahirwars, am Dorfbrunnen lange warten, bevor sie Wasser holen darf. Erst wenn kein Mitglied einer höheren Kaste mehr am Brunnen ist, ist sie an der Reihe. Die anderen Frauen würden sonst protestieren, da sie das Wasser verunreinige.

Ökonomen, Politiker und Unternehmer heben stolz die Wachstumsraten des Landes hervor, die letztlich auch den Ärmsten Nahrung zusichern sollen. Doch diese Parolen verschleiern das Problem. Der international bekannte indische Schriftsteller Pankaj Mishra sagt dazu, dass die „Intensität der Entbehrungen in Madhya Pradesh nur mit denen im kriegszerstörten Kongo zu vergleichen sind“.

Postwendend beschimpfte Professor Bhagwati den Schriftsteller als einen „Reform-Neinsager“, der das indische Wirtschaftswunder verunglimpfe. Darauf schaltete sich Nobelpreisträger Amartya Sen in die Diskussion ein: „Warum ist die Unterernährung in Indien so hartnäckig?“, fragte er und bemängelte, dass das Land „versäume, in einer Zeit steigender Lebensmittelpreise seine Bevölkerung zu ernähren“.




Quelle: Gebende Hände-Redaktion; nach einer Information von: „Die Zeit Online“, zeit.de