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Somalia: Der alptraumhafte Marsch

 
Meldung vom 15.09.2011

Tausende somalische junge Mütter ziehen mit ihren Kindern im Schlepptau durch die Steppe. Ihr Ziel ist das Flüchtlingslager Dadaab. Doch dazwischen befindet sich ein Alptraum. Amina treibt ihre sieben Kinder an. Sie sind alle erschöpft, denn sie haben kein Wasser und kein Geld mehr. Doch der Hunger lässt ihnen keine andere Wahl, als sich weiterzuschleppen.

„Ich hatte 60 Rinder und 100 Ziegen. Doch dann kam die große Dürre. Ein Tier nach dem anderen starb. Bis alle weg waren“, berichtet Amina, während ihre sechsjährige Tochter Raha in der gleißenden Nachmittagssonne in ihrem Schoß döst. Die seit drei Jahren währende Dürre ließ irgendwann die Tiere des gesamten Dorfes verdursten. „Eines Abends haben sich alle 128 Haushalte unseres Dorfes zusammengesetzt. Wir beschlossen, nach Dadaab zu gehen. Wir konnten doch nicht warten, bis auch noch unsere Kinder sterben“, meinte Amina.

Nur mit dem, was sie am Leib trug, einer Plastiktüte mit Milchpulver, Teeblättern und Zucker und geliehenen 100.000 somalischen Schillingen brach Amina drei Tage später auf. In einem Tuch trug sie ihren acht Monate alten Sohn Aden Hassan auf dem Rücken, an einer Hand zog sie Rahan hinter sich her, in der anderen Hand schleppte sie einen Plastikkanister mit fünf Liter schmutzigem Wasser. Bis zum nächsten Wasserloch musste die trübe Brühe den Durst der Mutter und ihrer sieben Kinder löschen. Wo die nächste Wasserstelle war, wusste Amina nicht.

Aus Aminas Dorf waren insgesamt rund 700 Frauen, Kinder und Alte auf billigen Plastiklatschen oder barfuß aufgebrochen. Vor ihnen lagen Hunderte von Kilometern bis nach Dadaab. Dieser Weg ist ein Weg durch die Hölle. Somalia ist so gefährlich, dass internationale Hilfsorganisationen der hungernden Bevölkerung dort kaum beiseite stehen können.

Die verzweifelten Flüchtlinge kämpften sich bei Temperaturen um die 35 Grad durch die Steppe. Im Schatten dorniger Büsche legten sie eine Pause ein. Im Staub fielen die Kinder sofort in einen erschöpften Schlaf. Erst bei Einbruch der Dunkelheit machten sie sich wieder auf den Weg. „Wir hatten nur wenig Wasser. Wir konnten nicht in der Hitze des Tages gehen“, erklärt Amina.

Der Weg ins verheißungsvolle Dadaab war für die Hungernden auch in der Dunkelheit nicht schwer zu erkennen. Zehntausende Flüchtlinge vor ihnen hatten eine Spur aus kaputten Schuhen, niedergebrannten Feuern und auf die Schnelle geschaufelten Grabhügeln hinterlassen. „Ich habe gesehen, wie eine Mutter ihr Baby neben der Straße begrub. Es war auf ihrem Rücken gestorben. Sie hat es nicht bemerkt. Seitdem habe ich immer auf Adens Herzschlag auf meinem Rücken geachtet“, berichtet Amina.

Die Nomadin hat auch von Müttern erfahren, die auf dem langen Marsch die gesamte Familie – auch ihre Männer – gestillt haben. Wurde die Milch immer weniger, trafen die Mütter die schwerste Entscheidung ihres Lebens: Manche Kinder wurden nicht mehr gefüttert. Meist starben so die jüngsten Töchter an Hunger.

Drei Tage lang liefen die Dorfbewohner durch die Nacht. Dann, eines Nachts, traten ihnen Al-Shabaab-Milizen in den Weg. „Es waren bestimmt 30 Männer, und mindestens zehn von ihnen hatten Gewehre. Sie wollten unser Geld“, betont Amina. Als die Frauen sich weigerten, fing der Al-Shabaab-Anführer an, zu schreien. „Wir mussten uns hinlegen. Sie schlugen die alten Männer mit den Gewehrkolben. Die Kinder waren entsetzt. Wir hatten von Frauen gehört, die auf der Flucht vergewaltigt wurden. Wir wussten, dass es keine leere Drohung ist“, berichtet Amina. Als der Islamisten-Anführer rief: „Trennt die Frauen von den Kindern und Alten!“, zog Amina Aden die zerknitterten Scheine hervor. Mit den 100.000 somalischen Schilling (rund 45 Euro) wollte sie eigentlich das Allernötigste für den Marsch durch die somalische Steppe kaufen. Vielleicht wäre es ihr damit gelungen, eine Mitfahrt auf einem Lastwagen arrangieren.

Seitdem laufen die Frauen, Kinder und Alten nur noch tagsüber. Die Angst vor einer weiteren nächtlichen Begegnung mit den Milizen war größer als die vor der Hitze des Tages. Immer wieder stießen sie jetzt aber auf Hyänen und Löwen. Um die wilden Tiere abzuwehren, machten die erschöpften Menschen Krach. Die vorbeifahrenden Bus- und Lastwagenfahrer wollten nur die Verzweiflung der Flüchtlinge ausnutzen und berechneten für die Fahrt zur somalisch-kenianischen Grenze horrende Preise. Sie zeigten keinerlei Erbarmen für die halb verhungerten und verdursteten Menschen. Noch gab es Flüchtlinge, die nicht ausgeraubt worden waren und zahlen konnten.

Doch sie erlebten auf ihrem zwei Wochen dauernden Marsch auch Barmherzigkeit und Hilfsbereitschaft. „An jedem Wasserloch durften wir soviel trinken, wie wir konnten und unseren Kanister auffüllen. Eine Familie hat meinen Kindern sogar neue Schuhe geschenkt, als sie sahen, dass sie barfuß gingen“, sagt Amina. Ihre Füße und die Füße ihrer Kinder sind trotzdem von dem Hunderte Kilometer langen Marsch über scharfkantige Steine und dornige Büsche übersät mit verschorften Wunden.

Seit der Ankunft in Dadaab hält Aminas ältester Sohn Hussein Hassan die Augen meistens geschlossen. „Ich glaube, er ist auf der Flucht von der Malaria-Mücke gestochen worden“, meint seine Mutter. Morgen will sie den 12-Jährigen in eines der Lazarette im Lager bringen. Weitere Pläne hat Amina nicht geschmiedet. Sie hat aufgegeben, Pläne zu machen. Sie hat schon längst aufgehört, ihr Leben selbst zu bestimmen. Die jahrelange Dürre, der seit Jahrzehnten währende Bürgerkrieg, der schreiende Al-Shabaab-Mann, die netten Mitarbeiter des Flüchtlingswerk der Vereinten Nationen, die ihr und ihren Kindern blaue Armbänder mit Nummern umbanden, die im Flüchtlingslager ihre Identität anzeigen: Schon viel zu lange treffen andere über Aminas Leben Entscheidungen.


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Quelle: Gebende Hände-Redaktion; nach einer Information von: „Die Zeit Online“, zeit.de

Schlagwörter: Somalia, Flucht, Marsch, Steppe, Flüchtlinge, Hunger, Hungersnot, Dadaab, Al-Shabaab-Miliz, Durst, Wasser, UN, Ostafrika, Nomaden