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Afghanistan: Kandahar – Die heimliche Hauptstadt der Taliban

Meldung vom 20.01.2012

Fünf Jahre nach seinem letzten Besuch reist der Autor Navid Kermani durch Afghanistan, ein Land, das kaum einen anderen Zustand als den Krieg kannte – und sich derzeit die bange Frage stellt, was jetzt wohl kommt. In Kandahar, im Süden des Landes, ist die Lage am angespanntesten. Doch auch hier finden regionale Friedenskonferenzen statt. In engen Stuhlreihen quetschen sich mehrere Hundert Delegierte in traditionellen Gewändern, neben ihnen, am Rand, hat sich ein halbes Dutzend Frauen mit Kopftüchern niedergelassen, dahinter ein großer Schwarm von Presseoffizieren der ISAF.

Zwischen den Presseoffizieren mit Fotoapparaten und Videokameras befinden sich einige Journalisten, die „embedded“ unterwegs sind („Eingebetteter Journalist“ bezeichnet einen kontrollierten und zivilen Kriegsberichterstatter, der im Krieg einer kämpfenden Militäreinheit zugewiesen wurde, und nur unter deren Schutz Bericht erstatten darf, was ihm allerdings auch nur eine eingeschränkte Perspektive auf die Sachlage erlaubt). Sie haben ihre Schutzwesten und Helme abgelegt. Auf der Bühne machen es sich afghanische Amtsträger und westliche Generäle in tiefen Sesseln bequem. Nur die Taliban, um die es eigentlich geht, weil sie doch für den Frieden gewonnen werden sollen, die sucht man in dem fensterlosen Saal vergebens.

General John Allen beginnt eine Rede. Er sei gekommen, um zuzuhören und zu lernen, sagt er. Er hat sich in seiner kurzen Dienstzeit als Oberbefehlshaber der internationalen Schutztruppen bereits die Tonlage zueigen gemacht, mit der man in Afghanistan am meisten erreicht. Alle Entscheidungen müssten von Afghanen selbst getroffen werden, die ISAF leiste lediglich Hilfestellung, versichert Allen immer wieder, um genauso oft zu betonen, dass die internationale Gemeinschaft Afghanistan auch nach 2014 nicht sich selbst überlassen werde.

Die Taliban würden immer weiter verdrängt, ihre Anschläge seien Ausdruck ihrer Schwäche. Während sich der kräftig gebaute General betont bescheiden artikuliert, verwandelt sein schmaler Übersetzer selbst die vorsichtigen Anreden in einen passionierten Appell. „Lassen Sie mich von Herzen sprechen“, so der General, worauf der Übersetzer die Hand tatsächlich an die Brust legt: „Viel zu lange geht der Krieg schon, so viel Leid haben alle erfahren, jeder im Land ist müde. Auch auf der anderen Seite der Front wünschten sich viele Krieger nichts sehnlicher, als zu ihren Familien zurückzukehren.“

„Ich wünsche Ihnen und Ihren Familien Gottes reichen Segen“, schließt der General seine Ansprache und bedankt sich auf Paschtunisch. Der Applaus währt nicht länger als zwei, drei Sekunden. Ob die Rede so negativ gewesen sei, frage ich meinen Nebenmann, der für den persischsprachigen Dienst der BBC tätig ist. „Nein, nein“, meint der Kollege, früher hätten die NATO-Generäle immer so kriegerisch geklungen; so einen Bescheidenen wie diesen Mister Allen hätten sie hier noch nicht gehabt. Weshalb der Applaus dann gering ausgefallen sei, möchte ich wissen. Kein Stammesvertreter lasse sich gern dabei ertappen, wie er einem General der NATO applaudiert. Die Taliban positionierten überall ihre Spitzel.

Die Straße, die zu Hadschi Aga Lalai in Kandahar führt, Mitglied des Provinzrates und Führer des Stammes der Alkosai, ist verbarrikadiert, vor der Tür seines Hauses stehen Wachleute in schwerer Bewaffnung. Von knapp fünfhundert Stammesführern in der Provinz Kandahar, die mit der Regierung kooperieren, ist Lalai der Einzige, den die Taliban noch nicht ermordet haben. Lalai erklärt, die Lage habe sich verbessert und die Gegner seien aus weiten Teilen der Provinz zurückgedrängt worden, weil die NATO endlich angefangen habe zu kämpfen. Lalai kritisiert eher die Zurückhaltung mancher ausländischer Truppen als ihre Härte.

„Das ist nun einmal keine Übung hier“, so Lalai. Ja, es habe sehr viele unschuldige Opfer gegeben, aber das kann man nicht verhindern in einem schmutzigen Krieg, in dem die eine Seite sich bevorzugt in Häusern gewöhnlicher Dorfbewohner verschanzt halte und die andere Seite aus Furcht vor Verlusten dem Bodenkampf ausweiche. Die Dorfbewohner werden gezwungen, die Taliban zu beherbergen, weil sie sonst umgebracht werden.

Weder die Regierung noch die NATO mit all ihren Panzern, Aufklärungsflugzeugen und Soldaten hätten es erreicht, die Menschen vor den Taliban zu schützen. Das sei ein großer Fehler. Gerade heute wurde ihm aus einem seiner Dörfer gemeldet, dass Taliban mit Drohungen in die Häuser eingedrungen seien. Kurz darauf hätten schwer bewaffnete amerikanische Truppen das Dorf überrannt und nicht nur die feindlichen Kämpfer, sondern auch viele männliche Dorfbewohner festgenommen.

Den ganzen Tag telefoniere er schon herum, um die eigenen Leute wieder aus dem Gefängnis zu holen. Ob die Regierung ihm Schutz gewähre, ihm, einem Stammesführer, der gegen die Taliban kämpft? Hadschi Aga Lalai hebt die Hände. Er verlässt sich auf Gott und seine eigenen Wachleute. Bei zwei Attentaten ist er schon ohne Schaden davongekommen.

Von Alexander dem Großen gegründet, gilt das heutige Kandahar als Zentrum des paschtunischen Siedlungsgebietes. Kandahar ist damit auch die heimliche Hauptstadt der Taliban. Hier bezogen sie 1994 zuerst Stellung, hier konnten sie sich 2001 am längsten halten. Diese Stadt wollen die Taliban als erste wieder erobern.

Daher herrscht in Kandahar ein bleibender Belagerungszustand, auf den Zufahrtsstraßen gibt es alle hundert Meter die Checkpoints der afghanischen Armee, im Zentrum sieht man die Panzerwagen der NATO an jeder größeren Kreuzung, am Himmel fliegen Überwachungszeppeline und Hubschrauber. An jedem Häuserblock kann man die Spuren des Krieges lesen: An diesem Rekrutierungsbüro der Polizei hat ein Attentäter seinen Sprenggürtel gezündet, in jener Schule wurden Geiseln entführt, dort stand einmal ein Haus, aus dem heraus die Taliban operiert haben.

Fragt man in Kandahar nach den Taliban, bekommt man ausweichende Antworten. Zu viel Furcht herrscht vor den Spitzeln der Taliban, die etwas weitertragen könnten. Wird man von einem Handwerker oder Händler zum Tee eingeladen, was in Kandahar viel seltener geschieht als im Rest des Landes, hört man kaum Gutes – über die Taliban so wenig wie über den Staat.

Stattdessen kursieren Verschwörungstheorien: Der Krieg sei nur ein Vorwand, damit die amerikanische Besatzung weitergehen kann – operieren denn die Taliban nicht von Pakistan aus? Sei nicht Pakistan ein Handlanger Amerikas? Und könne man wirklich glauben, dass die größte Militärmacht der Welt nicht ein paar Tausend Kämpfer auf Pick-ups besiegen könne? Was immer man von diesen Gedanken halten mag, die in Kandahar fast jeder Bewohner zu hegen scheint – in jedem Fall sollte die ISAF in Erwägung ziehen, die Heerschar ihrer Presseoffiziere nicht nur auf die Betreuung westlicher Journalisten anzusetzen. Auch die Afghanen bewegen viele Fragen.




Quelle: Gebende Hände-Redaktion; nach einer Information von: „Die Zeit Online“, zeit.de

Schlagwörter: Afghanistan, Kandahar, Eingebetteter Journalismus, Journalisten, Taliban, Stammesführer, Paschtunen, ISAF, NATO, General John Allen, Friedensgespräche, Kriegsberichterstatter, Spitzel