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Indien: Wahlkampf – Werbung um die unteren Kasten

 
Meldung vom 06.03.2012

Im indischen Bundesstaat Uttar Pradesh bemüht sich Rahul Gandhi, der smarte junge Nachwuchspolitiker, um die Sympathie und Stimmen der unteren Kasten. Er stellt Reis in Aussicht. Doch die Unberührbaren lassen sich nicht so leicht beeindrucken.

Der Morgen ist fast geräuschlos. Vor der Lehmhütte eines Ziegenhirten in dem Unberührbaren-Dorf Maurava verharren vier Ziegen an einen Pflock gebunden. Ein junges Mädchen im bunten Sari bringt ihnen grünes Gras. Die 14-jährige Poonam Pasi hat keine Ahnung, welch hoher Besuch sich an diesem Tag angekündigt hat.

„Gandhi – den Namen kenne ich nicht“, meint Poonam. Ihr Großvater erklärt ihr, Rahul Gandhi besuche heute ihr Dorf und er sei der Urenkel Mahatma Gandhis. Das entspricht allerdings nicht der Wahrheit. Rahul ist der Urenkel des indischen Republikgründers Jawaharlal Nehru – doch Gandhi war eben bei den Unberührbaren immer populärer als Nehru.

Auf einer großen Wiese außerhalb des Dorfs wird am Nachmittag eine Großveranstaltung mit Rahul Gandhi abgehalten. Der 41-jährige Gandhi ist Indiens konkurrenzloser Kronprinz: jüngster Erbe der bekannten und einflussreichen Nehru-Gandhi-Dynastie und bereits Generalsekretär der regierenden Kongresspartei.

Die meisten Inder rechnen damit, dass er einmal Premierminister wird. Doch das Amt muss sich Gandhi hart verdienen. Also ringt er in den letzten Wochen in Indiens größtem Bundesstaat Uttar Pradesh, genannt UP, um Stimmen.

Wie zuvor keiner seiner Vorfahren aus dem Eliteclan setzt sich Gandhi für eine neue Beziehung zwischen Volk und Führung ein. Er will nicht mehr von den Dorfoberen aus seiner eigenen, hohen Kaste der Brahmanen abhängen. Sie sicherten der Kongresspartei früher die Stimmen auf dem Land, indem sie den Dorfbewohnern der niedrigen Kasten sagten, welche Partei sie zu wählen hatten. Seit Jahren schon fährt Gandhi selbst in ihre Dörfer, trinkt Tee mit den Allerärmsten. In Delhi macht man sich deswegen über ihn lustig.

Maurava befindet sich etwa 500 Kilometer entfernt von der Hauptstadt Delhi. Rahul Gandhi inszeniert hier einen seiner letzten Wahlkampfauftritte, die Begeisterung bei dem Publikum hält sich in Grenzen. „Wir haben keine Straße und kein sauberes Wasser, keine funktionierende Schule und kein Krankenhaus. Die Politiker haben nie etwas für uns getan“, klagt Maya Kumari, eine Unberührbare und Mutter von vier unterernährten Kindern.

Sie sind für ihr Alter viel zu schmächtig. Maya ist wie die meisten ihrer Kastenangehörigen einfache Arbeiterin. Mal schuftet sie auf dem Feld, mal im Straßenbau, mal ist sie arbeitslos. Hoffnung auf Veränderung ist ihr keine geblieben. Allerdings entgeht ihr nicht, dass Gandhis Besuch etwas Besonderes ist.

Als der Hubschrauber mit Rahul Gandhi auf der Wiese landet, umringen ihn Menschentrauben. Viele kreischen vor Freude, auch dann noch, als die Propeller große braune Staubwolken aufwirbeln. Die Leute müssen ihre Gesichter mit Tüchern einhüllen. Mitten im Gewühl aber steht Mayas Ältester, 10 Jahre alt, das frische Hemd schon über und über mit Staub bedeckt, und strahlt. Einen Hubschrauber hat er zwar schon mal gesehen, aber noch nie von so nah.

Der Moment der Freude geht schnell vorbei. Als sich Gandhi in einfacher, weißer Bauernkluft und Turnschuhen mit jugendlichem Elan auf eine Holzbühne schwingt, herrscht Stille in der Menge. „Er sieht weiß und dick aus“, kommentiert Poonam, die Tochter des Ziegenhirten. Das Mädchen sagt noch unbefangen, was die Erwachsenen nur im Stillen denken.

Mit „weiß“ beschreibt sie Gandhis helle Hautfarbe. Er ist der Sohn der gebürtigen Italienerin Sonia Gandhi, die heute der Kongresspartei vorsteht. Weiße Hautfarbe aber ist für die dunkelfarbigen Landbewohner in Uttar Pradesh immer noch ein Ausweis für höhere Gesellschaftsstellung. Auch „dick“ bedeutet bei der kleinen Poonam etwas Positives: Sie nimmt auf den ersten Blick wahr, dass er wohlgenährt ist – anders als die dürren Gestalten in ihrem Dorf.

Gandhi redet 20 Minuten lang. „Ich werde dafür sorgen, dass jede arme Familie die ihr gesetzlich zustehenden 35 Kilo Korn und Reis im Monat bekommt“, verspricht er über Lautsprecher. Darauf wird ihm zum ersten Mal Applaus gespendet. 35 Kilo Grundnahrung hat der Staat jeder armen Familie in Indien zugesagt, doch überall verhindert die Korruption die Umsetzung.

Gandhis Rede umfasst die große Politik, kritisiert den politischen Gegner. Das hat die Landarbeiterin Maya nicht behalten. Davon versteht sie nichts, denn sie ist Analphabetin wie 35 Prozent der Bevölkerung von UP. Und das gleiche Schicksal wird ihren Kinder voraussichtlich ebenfalls zuteil: „Essen ist wichtiger als Erziehung“, meint Maya. „Erst muss ich die Bäuche meiner Kinder füllen. Fürs Schuldgeld bleibt nichts mehr übrig.“

Professor Hilal Ahmad Naqvi wiegt auf die indische Art den Kopf hin und her, als er Mayas Geschichte hört: „Ich weiß, dass die Leute da draußen seine Rede kaum verstehen.“ Naqvi stammt selbst vom Land in UP. Er berichtet von der Krise der Landwirtschaft, von massenhafter Unterernährung und hoher Kindersterblichkeit. Er weiß um die Zahlen. „Niemand bei euch im Westen und nur wenige in Delhi können sich vorstellen, mit was für einer Bevölkerung wir es hier zu tun haben: 200 Millionen ohne Essen und Arbeit, ein Brutplatz für den Terrorismus von morgen“, so der Professor.

Seit 22 Jahren führen die unteren Kastenparteien den Bundesstaat UP. Derzeit regiert die Partei der Unberührbaren unter ihrer charismatischen Führerin Mayawati Kumari. Gemeinsam machen Unberührbare und niedrige Kasten knapp zwei Drittel der Bevölkerung von UP aus. Weit hinten landete die Kongresspartei Rahul Gandhis bei den letzten Wahlen in UP auf dem vierten Platz mit nur noch 8 Prozent der Stimmen.

Seither ist die Kongresspartei in Delhi auf wacklige Koalitionen angewiesen, die inzwischen jede neue Gesetzesinitiative verhindern. Eben deshalb hat Gandhi Uttar Pradesh sich als eine Art Bewährungsprobe ausgesucht: Denn nur wenn seine Partei hier wieder Anhänger findet, kann sie auch in der Hauptstadt ihre Handlungsfähigkeit zurück erhalten.

Doch die neuen politischen Verhältnisse sind in den Dörfern bereits tief verwurzelt. Auch in Maurava. Früher stimmten Mayas Eltern und Großeltern immer für die Kongresspartei. Heute gibt öffentlich keiner im Dorf zu, welche Partei er wählt. Auch Maya nicht. Sicherlich wählt sie die Partei ihrer Kaste.

Die neuen Parteien haben der Landbevölkerung bisher allerdings wenig geholfen. UP-Regierungschefin Mayawati wird Korruption nachgesagt. Die Landarbeiterin Maya hat indessen noch nicht einmal eine Ahnung von den Vorwürfen gegen sie. Für sie hat sich die Herrschaft der Unberührbaren-Partei genauso wenig ausgezahlt wie früher die Regierungszeit der Kongresspartei. „Die Landarbeiter ergeben sich schlicht ihrem Schicksal“, weiß Professor Naqvi in Lucknow.

Gandhi will die Leute aufrütteln – und seiner Partei neue Wählerschichten zuführen. Während seiner Rede bemüht er sich immer wieder, die Menschen direkt mit einfachen Fragen anzusprechen. Aber der Funke springt nicht über. Wahrscheinlich könnte Gandhi mit seinem Einfluss in Delhi wirklich eine Menge für den Bundesstaat durchsetzen. Doch das können die Bewohner Mauravas sich nicht vorstellen. Sie sind Gefangene eines Elends, das bisher alle Gandhis nicht abwenden konnten.

An diesem Tag hat sich der vermeintliche Erlöser nach einer halben Stunde wieder aus dem Staub gemacht. Kaum ist Rahul Gandhis Hubschrauber am Himmel verschwunden, löst sich die Menge in Windeseile auf. Zeit ist kostbar und jeder muss heute noch seine Schale Reis verdienen.


Video-Beiträge zu diesem Thema

 Wahlen 2012 in Uttar Pradesh (In Originalsprache)




Quelle: Gebende Hände-Redaktion; nach einer Information von: „Die Tageszeitung“, taz.de

Schlagwörter: Indien, Rahul Gandhi, Kongresspartei, Wahlkampf, Uttar Pradesh, Mahatma Gandhi, Jawaharlal Nehru, Partei der Unberührbaren, Kasten, Kastensystem, Unberührbare, Hunger, Armut, Brahmanen, Delhi, Mayawati Kumari, Korruption, Wähler, Stimmen