Unser Service für Sie


 [ » Newsletter ]

[ » zum Kontakt-Formular ]

[ » Material bestellen ]

[ » Geschenke bestellen ]



Videos aus unseren Projekten finden Sie auf unserem Youtube-Kanal.
[ » Gebende Hände – Youtube-Kanal ]


Haiti: Wo Bildung unerschwinglich ist

Meldung vom 25.04.2012

In Haiti ist jeder zweite Erwachsene des Lesens und Schreibens nicht mächtig. Die Kosten für den Schulbesuch übersteigen um ein Vielfaches die Lebenshaltungskosten. Lehrer erhalten so geringe Gehälter, dass sie nebenbei Hühner züchten müssen, um zu überleben.

In der Kirche von Thomazeau drillt Jean-Marc Valbrun seine Schützlinge wie beim Militär. Aufstehen – hinsetzen – aufstehen – hinsetzen – aufstehen: Immer und immer wieder schnellen die Chorkinder aus der Schule St. Michel auf sein Kommando von den Bänken hoch und setzen sich wieder hin, und dabei singen sie aus voller Kehle, was der Lehrer ihnen aufgetragen hat. Vier Jahre alt ist der Jüngste, 17 der Älteste. Vor allem die Kleineren sind schon müde, dabei handelt es sich doch erst um die Generalprobe. Doch Valbrun hat dafür kein Verständnis. Nicht an einem Tag wie heute.

Denn wichtige Gäste haben sich angekündigt. Eine Gruppe von emigrierten Landsleuten aus den USA kommt hier in den staubigen Osten von Haiti. Zweimal im Jahr inspizieren sie das Dorf Thomazeau und bringen den Schülern Geschenke. Valbrun, Lehrer für die Landessprache Kreolisch, Französisch, Geografie und noch einige andere Fächer und nebenbei Leiter des Schulchors, will die Einrichtung natürlich von der besten Seite zeigen. Noch einmal kommandiert der 49-Jährige die Kinder: „Hinsetzen – aufstehen – hinsetzen!“

Gegen halb zwölf treffen drei Autos ein. Mehrere attraktive junge Frauen betreten das Gebäude. Die Kinder von Thomazeau heißen sie begeistert willkommen. Eine der Damen stellt sich vor als Christine Simmons, Vizechefin bei der Firmengruppe von Magic Johnson. Sie freue sich, sagt sie, heute die Kinder in Haiti unterstützen zu können. Valbrun hat keine Ahnung, wer dieser Magic Johnson ist; die Basketballliga der USA, in der der Mann seine Millionen erwirtschaftete, hat ihn nie interessiert. Aber auch er ist über die Unterstützung froh, und so lässt er seine Kinder singen, noch einmal und noch einmal.

Die Schule, in der Valbrun unterrichtet, hat den Status eines Rohbaus nicht überschritten. Ein Pastor habe das Geld für den Bau investiert, sagt Valbrun später in einer ruhigen Minute. Nach dessen Tod seien die Arbeiten aber zum Erliegen gekommen. Vom Hof des U-förmigen Gebäudes kann man direkt in die Klassenzimmer blicken. Die meisten von ihnen stehen leer. Denn weil Sonntag ist, haben die Lehrer die Bänke nach nebenan in die Kirche geräumt. Die Kirchengemeinde und die Schule teilen sich die Möbel. Das spart Geld.

Die Leute hier sind arm, den Lehrern geht es kaum besser. „Ich verdiene 6.000 Gourdes im Monat, das sind etwa 150 Dollar. Um meine Familie zu ernähren, bräuchte ich mindestens 400 Dollar“, klagt Englischlehrer Laventure Louica. Bei derart schlechten Gehältern sei es verständlich, dass kaum ein Haitianer den Beruf des Lehrers ergreifen wolle.

Allein 1.250 Gourdes muss Louica aufbringen, damit sein fünfjähriger Sohn in die Schule St. Michel gehen kann, in der er, der Vater, Lehrer ist. Neben seiner Arbeit züchtet er darum Hühner und Schafe. „Wenn ich Geld brauche, und die Schule zahlt mir mein Gehalt nicht, dann verkaufe ich eines meiner Tiere, um zu überleben.“

Nicht nur in Thomazeau – in ganz Haiti sind die Zustände im Bildungswesen katastrophal. Ausgerechnet im ärmsten Land der westlichen Hemisphäre sind neun von zehn Schulen unter privater Führung, und die Eltern müssen Gebühren zahlen: zwischen zwölf und 900 Dollar monatlich. „Für einen Großteil der Bevölkerung ist das unerschwinglich“, beschwert sich Bildungsexpertin Valerie Noisette vom Kinderhilfswerk World Vision.

Nur jeder fünfte Grundschüler kann sich einen Platz in einer der wenigen öffentlichen Schulen sichern. Die wiederum sind maßlos überfüllt. „Ich habe Klassen besucht, da saßen 80 Schüler. Wie soll man so lernen? Das ist absurd“, so Noisette. Umsonst sei der Unterricht in diesen staatlichen Lehranstalten auch nur in der Theorie. In der Praxis hingegen forderten auch sie – wenn auch wesentlich niedrigere – Gebühren für Schuluniform, Lehrmaterialien und Verköstigung. Weil viele Eltern auch diese Kosten nicht tragen können, sei jedes vierte Kind im Grundschulalter vom Schulbesuch ausgeschlossen. Von denen, die in den übervollen Klassenräumen die Schulbank drücken, schaffen es dann gerade einmal 30 Prozent bis zur sechsten Klasse. Das bedeutet: Mehr als die Hälfte aller Haitianer über 15 Jahren bleiben Analphabeten.

Präsident Michel Martelly immerhin scheint erkannt zu haben, dass es so nicht weitergehen kann. Im Wahlkampf sicherte er zu, allen Kindern eine kostenlose Schulbildung zu verschaffen. Ein von der Regierung eingerichteter Fonds soll zunächst für die Hälfte der 1,5 Millionen Grundschüler die Schulgebühren abdecken. „Ein Schritt in die richtige Richtung“, meint die Expertin Noisette.

In Thomazeau hat man allerdings bisher von diesem Geld nichts zu sehen bekommen. Umso dankbarer sind die Kinder für die Spenden der Landsleute, die in der Emigration zu Geld gekommen sind und ihnen davon etwas abgeben. Vor dem Altar der Kirche bilden sie eine geduldige Schlange. Wohlerzogen nimmt jeder Schüler ein Geschenk in Empfang: Fußbälle und Plastikautos für die Jungen, Puppen für die Mädchen.

Als einige der älteren Jungen wahrnehmen, dass die begehrten Fußbälle sich dem Ende zuneigen, versuchen sie, sich vorzudrängeln. Es gibt Gedränge in der Schlange, einige der Kleinen fangen zu weinen an. Einer der Lehrer zieht seinen Gürtel aus der Hose und züchtigt die Unruhestifter. Etliche Schüler fallen zu Boden, der Lehrer schlägt unvermindert weiter. Niemand interveniert.

Der Mann durchlebe gerade schwere Zeiten, seine Frau sei bei der Geburt ihres fünften Kindes gestorben, versuchen die Kollegen sein Verhalten in Schutz zu nehmen. Hätte der Ort ein Krankenhaus, wäre sie vermutlich mit dem Leben davon gekommen. Allein der Englischlehrer Louica lässt durchblicken, dass Schläge für ihn nicht mehr in Frage kommen. „Ich bin nicht so ein harter Typ. Ich lasse einen Schüler, wenn er nicht hört, höchstens mal auf einem Bein stehen“, meint er. „Einige halten bis zu einer Viertelstunde durch.“




Quelle: Gebende Hände-Redaktion; nach einer Information von: „Berliner Zeitung“, berliner-zeitung.de

Schlagwörter: Haiti, Bildung, Schule, Schulbesuch, Kinder, Analphabeten, Lesen, Schreiben, Michel Martelly, Schulgebühren, Lehrer, Gehalt