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Somalia: Ein Urteil für Piraten – Tatverdächtige aus einer anderen Welt

Meldung vom 19.10.2012

Es ist der erste Piratenprozess in Deutschland seit Jahrhunderten. Und es ist ein bürokratisches „Monster“, das Millionen von Euro verschlingt. Deutlich wurde in den letzten Monaten, dass der deutschen Justiz Grenzen gesetzt sind. Und dass es zu absurden Hindernissen beim Aufeinanderprallen zweier Welten kommt. Nach zwei Jahren geht der Prozess nun auf das Ende zu, das endgültige Urteil ist nahe.

Fünf Kalaschnikows, zwei Raketenwerfer, Enterhaken und Granaten – als die Gerichtsverhandlung gegen zehn Piraten aus Somalia im November 2010 in Hamburg startete, stützte sich die Staatsanwaltschaft auf handfestes Beweismaterial. Auch ein Video zählte dazu: Es zeigt die Festnahme der Männer auf frischer Tat. Abgekürzt hat das den Prozess trotzdem nicht – im Gegenteil. Seit fast zwei Jahren muss sich die Justiz mit diesem Fall herumschlagen. Mehrere Millionen Euro dürfte er gekostet haben.

Wenn das Landgericht der Hansestadt nun am Freitag, den 19.10.2012, sein Urteil über jene Männer vom Horn von Afrika bekannt gibt, endet ein Mammutprozess. Dass der Prozess so viel Zeit in Anspruch nahm, hat mehrere Gründe. Obwohl rein strafrechtlich ziemlich eindeutig, musste die Hamburger Justiz einen bisher einmaligen Fall in der Rechtsgeschichte der Bundesrepublik aufwickeln. Vor allem aber musste sie all die Hindernisse überwinden, die entstehen, wenn in einem Gerichtssaal zwei Welten aufeinanderprallen.

Was war die Vorgeschichte? In Badelatschen und Shorts, auf winzigen Booten hatten die zehn Angeklagten am 5. April 2010 das Containerschiff Taipan 530 Kilometer vor der Küste Somalias attackiert. Sie nahmen mit ihren Sturmgewehren die Brücke in Beschuss, schlugen die Besatzung des Frachters in die Flucht. Doch der Kapitän und seine Crew sandte von einem Sicherheitsraum ein Notsignal aus. Ehe die Somalier das Schiff gänzlich gestürmt hatten, überwältigte ein niederländisches Marinekommando die Piraten.

Da die Taipan unter deutscher Flagge fuhr und im Besitz einer Hamburger Reederei war, ließ die Bundesrepublik die Männer vom 6.000 Kilometer entfernten Horn von Afrika einfliegen. Man wollte demonstrieren, dass den Männern ein faires Verfahren gemacht würde. Es galt, Rechtsstaatlichkeit vorzuzeigen. Erstmals seit den Tagen der Vitalienbrüder und anderer Seeräuberbanden, die Mitte des vergangenen Jahrtausends die Nord- und Ostsee verunsicherten, fing sich die deutsche Justiz so einen Piratenprozess ein.

Wohl auch angesichts des großen Medieninteresses, das die Somalier in Hamburg auslösten, standen jedem der Männer sicherheitshalber gleich zwei Verteidiger zu Seite. Benötigt wurden zudem drei Dolmetscher und eine Reihe von Sachverständigen. Alles musste legal zugehen. Allein diese Logistik nahm ein gewaltiges Ausmaß an. Vor dem Prozessauftakt war man sich trotzdem einig, das Verfahren würde nur „einige Monate“ dauern.

Doch man verlor sich im Labyrinth der nicht ausführbaren Formalitäten: Das zeigte sich schon beim ersten protokollarischen Akt des Prozesses, der Feststellung der Identität der Angeklagten. Schon die Suche nach der korrekten Aussprache und Schreibweise der Namen der Angeklagten nahm Tage in Anspruch. Wirklich kompliziert wurde es, als das Alter der Männer erfasst werden sollte. Mehrere der Angeklagten hatten keine Ahnung. Einer meinte: „Ich wurde 1986 geboren, in der Regenzeit.“ Ein anderer: „Ich wurde unter einem Baum geboren. Ich denke, ich bin jetzt 20 Jahre alt.“

Anhand von Röntgenaufnahmen der Handknochen, Zähne und Schlüsselbeine versuchen Gutachter zumindest zu gewährleisten, dass alle Angeklagten überhaupt strafmündig sind. Tagelang setzten sich die Prozessbeteiligten mit der Aussagekraft von Messungen der Wachstumsfugen auseinander.

Hinzu kamen die widrigen Bedingungen in Somalia, die das Verbrechen der Piraten relativierten. Einer der Somalier berichtete, dass sein Sohn entführt wurde von einem Mann, dem er rund 1.000 Dollar schuldete. Da er von der somalischen Justiz keine Hilfe zu erwarten hatte, habe er versucht, das Geld durch den Angriff auf die Taipan zu beschaffen. Somalia ist zudem eines der ärmsten Länder der Welt. Bei seinem Schlussplädoyer sagte einer der Männer, dass er während seiner Zeit in Deutschland drei Mahlzeiten am Tag erhalten hat und ärztlich versorgt wurde, sei für ihn „unvorstellbar“. Er hatte damit gerechnet, in Deutschland hingerichtet zu werden.

Einer der drei jüngsten Beschuldigten, die allesamt unter das Jugendstrafrecht fallen und im April auf freien Fuß gesetzt wurden, sagte, er sei unendlich dankbar, dass er in Deutschland jetzt die Schule besuchen dürfe. „Es ist für mich wie ein Traum. In Somalia habe ich nie eine Chance gehabt.“

Die Verteidigung stuft den Angriff auf die Taipan für einige der Somalier denn auch als Verzweiflungstat ein, plädiert angesichts all dieser Umstände auf Freispruch oder zumindest eine geringe Strafe. Doch die Drahtzieher der Tat sollen nicht mit Strafmilderungen davon kommen. Trotz der harten Lebensumstände darf man nicht aus den Augen verlieren, dass es sich natürlich um einen brutalen bewaffneten Angriff handelt. Auch die betroffenen Reeder erwarten ein hartes Urteil zur Abschreckung.

Doch würde eine für deutsche Rechtsverhältnisse harte Strafe tatsächlich hungernde Nachahmer im zerrütteten Somalia von weiteren Taten abschrecken? Deutlich komplexer dürfte für den Richter die Frage ausfallen, wie sich das Strafmaß auf die Resozialisierungsfähigkeit der Angeklagten auswirkt. Denn fest steht, dass die Bundesrepublik die Angeklagten nicht mehr ins Kriegsgebiet Somalia abschieben kann. Was ist das Ziel der Strafe? Oder hat man im Labyrinth zweier Welten doch den Faden verloren?




Quelle: Gebende Hände-Redaktion; nach einer Information von: „n-tv“, n-tv.de

Schlagwörter: Somalia, Prozess, Piraten, Piratenprozess, Hamburg, Urteil, Justiz, Verzweiflungstat, Abschreckung, Reederei, Menschenraub, Rechtsverhältnisse, Strafe, Strafmaß, Taipan, Schule, Mahlzeit, Eingliederung, Asyl, Resozialisierung, Angeklagte, Strafmündigkeit