Haiti: Tauschgeschäft – Wer Obdachlose aufnimmt, erhält Hausreparatur

Meldung vom 25.09.2013

In Haiti haben sich die Regierung und Hilfsorganisationen einen Deal einfallen lassen: Wer Obdachlose aufnimmt, der erhält im Gegenzug eine Reparatur seines Hauses finanziert. Damit die Opfer des Erdbebens endlich die Zeltlager räumen können, gibt es jetzt besondere Anreize für Hauseigentümer.

La Grenade gehört nicht zu den besten Stadtteilen, die Menschen hier oberhalb von Carrefour besitzen alle nicht viel. Die Häuschen sind einfach, Latrinengeruch schlägt einem entgegen. Das Eckhaus oben am Pfad zur steilen Straße hat einen frischen hellgelben und hellgrünen Anstrich. Zudem schmückt es ein neues Wellblechdach. Ebenso stolz wie missmutig steht Jean-Claude Deolus davor – der 59-Jährige ist Eigentümer des Doppelhauses. Er ist hier im Viertel ein situierter Mann, eine Hilfsorganisation hat sein Haus repariert und mit ein paar baulichen Maßnahmen beben- und sturmfest gemacht. Im Jargon der Helfer nennt man das „retrofit“.

Dass die Nägel zentimeterlang aus dem Holzgestell ragen und nicht umgeschlagen wurden, mindere die Stabilität des Daches nicht, erklärt der im Sportstudio trainierte Medienmitarbeiter Seneq Pierre-Martelly, während er zwischen seiner Versace- und der Ray-Ban-Brille wechselt. Eigentlich will er nur Seneq Pierre genannt werden. Dass er mit dem Präsidenten verwandt ist, soll geheim bleiben. Zu viele Leute wollen sonst aus seiner Bekanntschaft Vorteile herausschlagen. Das aber geht Michel Martelly gegen den Strich, das gäbe richtig Ärger, meint Seneq Pierre. Beim Bauen in Haiti sei oberste Priorität, die Art und Weise möglichst wenig gegenüber dem Üblichen zu ändern, erklärt er mit Blick auf die Unzulänglichkeiten.

„Wir können den Menschen nicht beibringen zu bauen wie in San Francisco.“ Die Bauvorschriften haben vorrangig zum Ziel, Menschen zu retten, nicht Häuser. Insgesamt hat eine Hilfsorganisation in seiner Gegend nach diesem Modell 60 Häuser wieder aufgebaut. Insgesamt umfasst das Programm den Wiederaufbau von 320 Häusern für je 700 bis 2.200 Dollar.

Als Gegenleistung für die Reparatur muss der Eigentümer versprechen, für ein Jahr eine Familie aus einem der Zeltlager bei sich unterzubringen. Deolus wurde erlaubt, wie allen anderen auch, seine Mieter selbst aussuchen. Er hat Fedilia Suffleurant, deren Mann und die drei Söhne auserwählt. „Wir sind wie eine Familie“, betont Deolus lächelnd.

Seine Mieterin (40) stammt ursprünglich aus einem Ort drei Stunden entfernt, sie hauste nach dem Beben weiter unten in einem Camp. Beim Umzug musste sie ihre Registrierungskarte als intern Vertriebene aushändigen, damit sie nicht etwa doppelt Hilfe auch noch bei anderen bezieht. Ihre Kinder besuchen erst seit dem Beben die Schule. Sie bietet „Bagay“, kleine Dinge, auf dem Straßenmarkt feil. Ihr Mann verdingt sich im Norden des Landes als Teppichverkäufer, erzählt sie, während sie an ihrem ungewaschenen braunen T-Shirt zieht und den Blick senkt. Ihr Wohnbereich ist ein penibel aufgeräumtes Zimmer im hinteren Teil. Mehrere Kreuze und christliche Bilder zieren die Wand, die Einrichtung ist karg.

Trotz all der Tropenstürme in Haiti ist keine Regenrinne vorhanden, sie haben improvisiert. Vor der Eingangstür ist ein kurzes verbeultes Stück Blech am Dachbalken angebracht, um wenigstens dort vor Sturzfluten von oben bewahrt zu bleiben.

Auch Jean-Claude Deolus erlaubt einen Blick in seine Wohnung. Er präsentiert ein ärmliches, unaufgeräumtes Zimmer. Lebt er wirklich selbst auch hier? Die sanitären Einrichtungen in einem Nebengebäude will er um keinen Preis zeigen, öffnet dann aber doch die Tür zur Toilette – im Eingang wird ein Fernseher sichtbar. Der gehörte offenbar nicht zur Vorführung.

Fedilia ist im Januar eingezogen, eine Hilfsorganisation hat mit der Reparatur des Hauses für ein Jahr die Miete abgegolten. Sie sagt, sie haben bisher kein Geld beiseite legen können. Was wird im Dezember geschehen, wenn die Miete fürs nächste Jahr fällig ist? „Natürlich kann sie bleiben“, betont Jean-Claude Deolus: „Wenn sie die 500 US-Dollar Miete zahlt.“ Wenn ihr das aber nicht möglich ist? „Ganz klar: Dann wird sie gehen müssen“, sagt der Hausherr kühl. Soviel zur neuen Familie.

Beide schauen plötzlich auf Seneq Pierre-Martelly. Aber der hat auch keine neue Lösung. Die Hilfsorganisation wird die Mitbewohner 2014 nicht mehr unterstützen. Die Familien müssen Arbeit finden und Geld verdienen. „Wir haben nicht die Leute, um die Menschen zu pushen, so schrecklich das ist“, bemerkt Care-Programm-Mangagerin Vera Kreuwels. Wegen der Langzeithilfe sei in Haiti längst eine „Kultur der Abhängigkeit“ entstanden. Viele Menschen haben den Sinn dafür verloren, für ihr eigenes Leben zu sorgen. „Die Gesellschaft zu ändern, dauert mehrere Generationen“, prognostiziert Vera Kreuwels.


Quelle: Gebende Hände-Redaktion; nach einer Information von: „Der Tagesspiegel“, tagesspiegel.de