Afghanistan: Die neue Bildungslandschaft und der Ansturm auf die Unis

Meldung vom 11.03.2014

Der Bedarf an Studienplätzen in Afghanistan ist groß und steigt von Jahr zu Jahr. Jedes Jahr bemühen sich zigtausende junge Erwachsene in Afghanistan um ein Studium. Weil die staatlichen Unis nicht genügend Plätze bieten, ist ein Boom an privaten Instituten entstanden.

Derzeit bleibt Afghanistans angehenden Studenten nichts anderes übrig, als warten und hoffen. Bis Ende Februar haben Tausende sich den landesweiten Aufnahmeprüfungen, den Concours, für die 26 staatlichen Hochschulen unterzogen. Doch die Zahl der Bewerber ist weitaus größer als die Zahl der freien Plätze. Wenn man auf die Statistik der letzten vier Jahre zurückgreife, sagt Fahim Ebrat, der das Thema unter die Lupe genommen hat, dann hätten insgesamt rund 300.000 Schulabgänger zwischen 19 und 26 Jahren sich aus Platzmangel nicht an einer Uni einschreiben können.

„Was werden die jungen Menschen tun?“, kritisiert Ebrat. „Mit Drogen handeln? In Frachtcontainern oder auf Booten über das Meer nach Europa flüchten und ihr Leben riskieren? Das kostenfreie Lehrangebot pakistanischer Einrichtungen wahrnehmen, um womöglich Selbstmordattentäter zu werden?“

Afghanistans Geburtenzuwachs ist stark, die Bevölkerung jung. Zwei von drei Afghanen sind jünger als 25 Jahre. Seit dem Ende der Taliban-Herrschaft geht die Zahl der Schulabgänger nach oben und damit auch die Zahl jener, die in den akademischen Bereich wollen.

Doch angesichts fehlender Plätze erleiden viele junge Menschen einen herben Rückschlag. Bewerber sagen, dass oft Schmiergelder entrichtet werden müssten, um einen Studienplatz zu erringen. Nicht selten setzen einflussreiche Familien ihre eigenen Kinder gegen Konkurrenten durch, die beim Prüfungsverfahren den Punkten nach besser abgeschnitten hätten. Besonders begehrt sind dabei die renommierten Medizin- oder Ingenieursfakultäten in Kabul. „Betrug und Korruption haben an den bestimmten Fakultäten Tradition“, weiß ein Kabuler Dozent. Sich dagegen zur Wehr zu setzen, hätte wenig Sinn. „Die Ministerialbürokratie ist selbst mit involviert“, gibt er zu. Gelegentlich prangern die Medien Bestechungsfälle an. Doch zu einer Änderung habe das bisher nicht geführt.

Die afghanische Hochschullandschaft lässt sich in ein Dreiklassensystem einteilen. Die besten Chancen hat jene kleine Schar von Studenten, die ein lukratives Auslandsstipendium in Europa, den USA oder Australien erlangt. Auslandsaufenthalte unterstützt auch der Deutsche Akademische Austauschdienst (DAAD), der sonst im Rahmen des „Stabilitätspakts Afghanistan“ den akademischen Aufbau vor Ort bezuschusst. Die Privilegierten, die nach Deutschland reisen, machen an hiesigen Universitäten ihren Masterabschluss oder qualifizieren sich für einen Doktortitel. Zurück in Afghanistan sollen sie als Dozenten und Lehrkräfte ihre neu ausgestatteten Fakultäten auf Trapp bringen und Afghanistan so an das internationale Niveau angleichen.

Die zweite Gruppe der angehenden afghanischen Akademiker konnte sich für einen Studienplatz im Land qualifizieren. Wenngleich die Lehrpläne der Universitäten und deren Ausstattung oft sehr rückständig sind und in vielen Einrichtungen eine Atmosphäre vorherrscht, die Studenten an eine Disziplinierungsanstalt erinnert – ein staatliches Studium ist nach wie vor ein Türöffner.

Der dritten Gruppe junger Menschen, die auf höhere Bildung nicht verzichten wollen, bleibt nach der Niederlage bei den Aufnahmeprüfungen nur der Gang an eine der rund 75 privaten Universitäten. In den letzten sechs Jahren hat es einen regelrechten Schub bei der Eröffnung solcher Institute gegeben. Ein heftiger Konkurrenzkampf ist ausgebrochen. Die privaten Hochschulen werben mit weithin sichtbaren Werbetafeln an zentralen Plätzen in Kabul und auch im Internet um die Gunst der Studenten und die Finanzen ihrer Eltern.

Die Masse der Hochschulgründer ist bunt zusammengewürfelt. Nicht nur erfolgreiche afghanische Geschäftsleute haben Institute gegründet, sondern auch politische Akteure, darunter Gouverneure, umgewandelte Warlords und ehemalige Taliban – alles wird ausdrücklich toleriert vom afghanischen Staat. Dessen chronische Passivität geht hier einher mit einem gewagten privatwirtschaftlichen Experiment. Der Ausgang steht in den Sternen.

Eine der ersten privaten Neugründungen, die Kardan-Universität, bewirkte einen Ansturm auf Bachelor-Titel. An der Spitze der Universität agiert ein Bruder des ehemaligen Parlamentspräsidenten Yunus Qanuni. Der streng konservative ehemalige Mudschaheddin-Führer Abdul Rasul Sayyaf zieht seine Kundschaft derweil an die Dawat-Universität.

Auch sogenannte moderate Taliban haben sich auf dem neuen Markt für höhere Bildung etabliert: So haben Mullah Wakil Muttawakil, der ehemalige Außenminister der Taliban, und Mullah Abdul Salam Zaeef, Exbotschafter der Taliban in Pakistan, die beide in Kabul unter bestimmten Auflagen leben dürfen, 2012 ein Institut für höhere Bildung namens Salam ins Leben gerufen. Ihre Kontakte zur Taliban-Führung sollen sie dadurch nicht aufgegeben haben.

An der Salam-Universität sind auch Frauen eingeschrieben, wobei die Pausenräume nach Geschlechtern separiert sind. „Für wertkonservative Familien, die ihre Töchter beschützt studieren lassen wollen, erfüllt diese Uni ihren Zweck“, meint der afghanische Politikwissenschaftler Niamatullah Ibrahimi. Zugleich warnt Ibrahimi vor der Politisierung der höheren Bildung.

Der Ansturm auf die privaten Universitäten ist trotz mangelnder Qualität der Lehre und des schlechten Niveaus ungebrochen. In den letzten zwei Jahren sei die Studentenzahl an der Ibn-Sina-Universität von 400 auf 1.400 nach oben geschnellt, sagt Amiri. Gut ein Drittel der Studenten seien Frauen, die ermäßigte Studiengebühren entrichten müssen. Allein durch die Gebühren spüle die Universität pro Jahr rund eine Million US-Dollar in ihre Kassen, rechnet Amiri vor.

Die große Zahl der Hochschulen lässt sich auch auf ethnische Gründe zurückführen. Einige Einrichtungen lehren vor allem den paschtunischsprachigen Nachwuchs, während Universitäten mit Hazara-Mehrheit keine Pashtu-Bücher in ihrer Bibliothek stehen haben.

Aus dem akademischen Dickicht ragt eine Privatuniversität wie ein Leuchtturm heraus: die American University of Kabul, die vor zehn Jahren mit Unterstützung der ehemaligen US-Präsidentengattin Laura Bush eröffnet wurde. Die Gebühren für ein Graduierten-Studienjahr belaufen sich auf rund 10.000 US-Dollar. Die Kosten für ein Studium hier können nur vermögende Afghanen aufbringen, weshalb die Universität als Eliteschmiede für Kinder von Regierungsmitgliedern und Ministerialbeamten gehandelt wird. Aber auch die anderen Privatinstitute sind nur für die Mittel- und Oberschicht bestimmt: 300 bis 500 US-Dollar pro Semester, dazu das Geld für Kost und Logis können viele Familien nicht aufbringen.

Tradition und Sicherheitsrisiken behindern ebenfalls den Weg zum Studium, vor allem auf dem Land: In Regionen, wo die Taliban das Sagen haben und höhere Bildung für Frauen abgelehnt wird, müssen sich Familien, die ihre Töchter auf die Hochschule lassen wollen, immer wieder gegen Schikanen oder Drohungen behaupten.

In den Städten existieren zwar schon Studentenwohnheime für Frauen, aber oft bringen die Eltern ihre Töchter in die Stadt. Auch junge Männer können von den Eltern von einem Studium abgehalten werden. Der landwirtschaftliche Betrieb muss aufrecht erhalten bleiben, und ein Mann im Haus bedeutet Sicherheit. Es ist das übliche Bild, das Afghanistan bietet. Vieles muss erneuert werden, und zugleich ist vieles schon im Aufbruch.

Von der Erneuerung und Qualität des Bildungssystems hängt letztendlich aber Afghanistans Zukunft ab. „Wir brauchen qualifizierte Studenten“, meint Fahim Ebrat, „es muss zuverlässige Staatsdiener geben, die sich in Regierung und in den Sektoren der Entwicklungshilfe langfristig engagieren.“ Sonst werde die hohe Analphabetenrate in die nächste Generation weitergegeben und zum Problem für das Land. Bildung könne außerdem dazu beitragen, die nationalen Sicherheitskräfte zu festigen, meint er mit Blick vor allem auf das Offizierskorps.


Quelle: Gebende Hände-Redaktion; nach einer Information von: „Die Tageszeitung“, taz.de