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Indien: Ein Land will die Kehrtwende – Ist Modi der richtige Mann dafür?

Meldung vom 08.04.2014

Ab Montag (07.04.2014) gehen die Inder zur Wahl – das Land bewegt sich in Richtung einer Kehrtwende. Der charismatische Narendra Modi wird als Favorit gehandelt. Manager haben Respekt vor ihm. Doch in seinem Bundesland Gujarat ist längst nicht alles so perfekt, wie es den Anschein hat.

Der Indien-Statthalter des Dax-Konzerns war völlig eingenommen von Modi. „Nach der Feier hat mir Modi einen Zettel mit seiner privaten Telefonnummer zugeschoben“, erklärt der Mann, der anonym bleiben möchte. „Ich solle ihn anrufen, sobald etwas klemmen würde, jemand Bestechungsgelder verlange. Er werde dann persönlich eingreifen.“ Das kann Narendra Modi möglicherweise bald von höchstem Level aus: Denn der amtierende Ministerpräsident des Bundesstaates Gujarat stellt sich zur Wahl für Indiens nächsten Ministerpräsidenten. Vom 7. April bis 12. Mai stimmen gut 800 Millionen Inder für ihr Parlament und damit die nächste Regierung. Alle Prognosen kündigen einen Machtwechsel an und den Gewinn der konservativen Hindus der Bharatiya Janata Partei. Modi steht an ihrer Spitze.

So bringt er die Wähler auf seine Seite: Er agiert schnell, inszeniert sich als Guru, der aus der unteren Gesellschaftsschicht stammt, geht aber entschieden vor. Die Börsenkurse steigen in der Hoffnung auf seinen Wahlsieg unaufhaltsam nach oben. Der Milliardär Anil Ambani bezeichnet Modi als „den Führer der Führer, den König der Könige“. Wer eine Vorstellung davon hat, wie es in Indien zugeht, kann einschätzen, warum Narendra Modi zum Liebling der Manager aufstieg. „The good M“, den „guten Herrn M.“, betitelte Ratan Tata den Kandidaten. Tata hat auf der ganzen Welt den Ruf eines vorbildlichen Managers. Er hatte die fertige Fabrik für das Kleinstauto Tata Nano im Bundesstaat Westbengalen dicht machen müssen, weil die Proteste dagegen Überhand nahmen. Modi teilte ihm per SMS ein freies Grundstück in Gujarat zu. Tata willigte ein. Er ließ für mehr als 200 Millionen Dollar ein neues Werk errichten.

Modi stillt anscheinend die Sehnsucht, die die größte Demokratie der Erde derzeit hegt: Die Sehnsucht nach Führungsstärke. Nichts könnte das Land jetzt mehr gebrauchen. In den vergangenen Jahren hat die Regierung eine Niederlage nach der nächsten erlitten, der Subkontinent hat seine Versprechen gebrochen. Lange Zeit als „zweites China“ im Rennen, wurde Indien inzwischen weit abgehängt. Der Slogan „Shining India“, das „glänzende Indien“, die geniale Werbekampagne zur Jahrtausendwende, ist zum leeren Begriff verkommen.

Die Weltbank stufte Indien auf ihrem Index der Länder, in denen man am einfachsten Geschäfte machen kann, immer weiter zurück: 2005 belegten die Inder Platz 116, im Jahr 2012 ging es auf Rang 131 zurück, im vergangenen Jahr blieb nur noch der Platz 134 übrig. Um den Bau einer Lagerhalle voranzubringen, sind 35 Genehmigungen vonnöten, im Durchschnitt benötigt man dafür 168 Tage. Je mehr bürokratischer Aufwand nötig ist, umso wahrscheinlicher müssen auch Bestechungsgelder entrichtet werden.

Es gibt überall Blockaden. Die Infrastruktur ist weitgehend in schlechtem Zustand und vollkommen überlastet. Die Korruption greift um sich. Das Parlament ist in den vergangen Jahren zunehmend gelähmt gewesen, Gesetzesvorhaben lagen einfach brach. Selbst Unternehmen, die schon Jahrzehnte in Indien aktiv sind, beschweren sich: „Wir haben unser Haus für zwei Jahre eingemottet“, meldet ein deutscher Manager mit Blick auf die Wirren. Und der amerikanische Rohstoffpapst Jim Rogers sagt: „Ich würde in Indien nicht investieren, bevor es sich nicht öffnet.“

Das Problem des Landes beginnt ganz oben, bei der Führungsschicht. Deren Reichtum und Einfluss hat sich in den Jahren des Wirtschaftsbooms immer weiter ausgeweitet. Eine Mittelschicht beginnt sich zu formieren. Die Masse der Menschen aber ist von dem Fortschritt ausgenommen. Sie können dem Elend nicht entkommen. Nach zahlreichen Maßstäben erzielt der Subkontinent sogar schlechtere Ergebnisse als die verarmten oder vom Bürgerkrieg heimgesuchten Nachbarländer Bangladesch und Pakistan. Indien verzeichnet 42 tote Kinder pro 1.000 Geburten. Im Armenhaus Bangladesch sterben „nur“ 33 Kinder. 2011 musste statistisch gesehen ein Lehrer 41 Schüler betreuen. Im vergangenen Jahr waren es schon fast 46 Schüler. In Pakistan können 44 Prozent der Kinder in der fünften Klasse rechnen. In Indien sind es nur 26 Prozent.

Die Hälfte aller Schüler bricht spätestens nach dem zehnten Schuljahr ab. Schon heute bleibt einer von sechs Schulabgängern in den Städten arbeitslos. Die glänzenden Softwareschulen in Bangalore sind das eine Gesicht von Indien. Im anderen Indien, dem alten „Bharat“, haben immer noch 86 Prozent der arbeitenden Inder keine andere Möglichkeit, als ihr Einkommen im informellen Sektor zu verdienen – Tagelöhner ohne Vertrag, ohne Versicherung, ohne Rente. Nun aber drängen Jahr für Jahr weitere 12 Millionen Menschen in den übersättigten Arbeitsmarkt. Zeitgleich holt die Landwirtschaft nicht auf: Indien erntet 3,6 Tonnen Reis pro Hektar – China erzielt schon 6,7 Tonnen, Vietnam generiert immerhin 5,6 Tonnen.

Viele der Unzulänglichkeiten wurden bislang toleriert. Das Wort von der „Hindu rate of growth“ diente als Entschuldigung, die Rede ist vom Wachstum im langsamen Hindu-Rhythmus. Die letzten Jahre der Regierung unter Ministerpräsident Manmohan Singh aber haben die Geduld der Inder überstrapaziert. Die Menschen werden ungehalten. Sie demonstrieren gegen die Korruption, sie stehen gegen die Missachtung von Frauen auf und suchen nach Alternativen. Rund die Hälfte der gut 1,2 Milliarden Inder ist jünger als 25 Jahre. Die Jungen und die Familien der neuen Mittelschicht sind nicht mehr leicht abzuspeisen. Sie haben Ansprüche, angekurbelt durch Fernsehen, Internet, Mobilfunk. Die demographische Dividende Indiens wird allmählich explosiv.

Modi hat in seinem Bundesstaat Gujarat ein Vorzeigemodell für das restliche Indien geschaffen. Denn die traditionelle Region der Händler schneidet in vielem besser ab als die anderen Bundesstaaten. Hier werden nicht nur Fabriken schneller errichtet, hier gibt es Strom und Wasser rund um die Uhr, die Bestechung ist geringer geworden. In Jamnagar am Golf von Kutch befindet sich die größte Raffinerie der Welt. Investoren ziehen in Scharen herbei. „Indiens Kanton“, würdigt die ausländische Presse Gujarat mit Blick auf Chinas Industrieregion. Und berichtet, dass Modi die Qualifikationen habe, Indien „etwas chinesischer zu machen“. Schon redet man von den „Modinomics“, einer von Modi geprägten Wirtschaftspolitik.

Dabei hat er seine Pläne bislang nicht offengelegt. „Wir müssen die Marke Indien entlang der fünf T entwickeln“, sagt er: „Talent, Tradition, Tourismus, Trade (Handel) und Technologie.“ Wie er das realisieren will, verkündet er nicht. Angesichts einer Wachstumsrate von nur noch 4,9 Prozent – der geringsten seit zehn Jahren – benötigt Indien ohne Zweifel eine neue Weichenstellung. Modis Gujarat verzeichnete zwischen 2001 und 2011 ein Wirtschaftswachstum um 10,2 Prozent. „Einen Thatcher-Moment“ erkennt die indische Wirtschaftszeitung Mint in diesem Trend, so wie im Sommer 1979, als Margaret Thatcher eine Strukturwende in Großbritannien bewirkte. Aber wird sich Narendra Modi als eine Art indischer Mr. Thatcher bewähren?




Quelle: Gebende Hände-Redaktion; nach einer Information von: „Frankfurter Allgemeine Zeitung“, faz.net

Schlagwörter: Indien, Wahl, Wirtschaft, Narendra Modi, Spitzenkandidat, Wende, Bharatiya Janata Partei, Manmohan Singh, Korruption, Mittelschicht, Oberschicht, Arbeit, Arbeitslosigkeit, Demographie, Wirtschaftswachstum, Gujarat, Vorzeigemodell, Investoren, Arbeitsmarkt