Indien: Wahlhelfer – Helden, die Dschungel und Krokodile besiegen

Meldung vom 30.04.2014

Wahlhefer in Indien sind Helden. Sie müssen die Wahlurnen zu praktisch kaum erreichbaren Orten transportieren. Die Mittagssonne brennt heiß und unerbittlich auf Biswajit Roy herab, während er vorsichtig in ein Einbaumkanu klettert. Seine Mission lautet die Mangrovensümpfe zu durchqueren, die dort lebenden Krokodile zu überwinden, ein Stück offenes Meer zu passieren und sich hinterher zu Fuß durch den Urwald zu schlagen. Sein Ziel – das kleine Dorf Hanspuri.

Der Lehrer mittleren Alters verstaut wichtiges Gepäck in dem Kanu. Er bringt zwei Abstimmungsgeräte in den entlegenen Ort mitten in der Wildnis Indiens, damit die 261 Wahlberechtigten von Hanspuri ihre Stimme zu den Parlamentswahlen abgeben können. „Als ich meinen Auftrag erhielt, dachte ich, mich trifft der Schlag“, gibt der 41-jährige Roy zu, der bei den derzeitigen Parlamentswahlen als Wahlleiter für die Inselgruppe der Andamanen und Nikobaren verpflichtet wurde. Die Inseln zählen zum indischen Unionsterritorium.

Indien ist stolz darauf, als größte Demokratie der Welt zu gelten. Wenn Wahlen anstehen, dürfen rund 814,5 Millionen Menschen zur Urne gehen. Und dabei setzen die Regierung und ihre Fußsoldaten alles daran, dass auch wirklich alle Wahlberechtigen berücksichtigt werden. Die Wahlen mutieren so zu einer logistischen Herkulesaufgabe. Denn Indien ist in weiten Teilen ländlich geprägt und verkehrstechnische Anbindungen sind schlecht.

Für einige indische Wahlhelfer heißt das, sie müssen den größten Hindernisparcours der Welt überwinden – und dabei darf sie nichts schockieren. Fast 6 Millionen Wahlbegleiter treten den Weg durch das gesamte Land an. Viele von ihnen sind Lehrer wie Roy oder verdingen sich in anderer Funktion bei dem indischen Staat. Sie stützen sich auf die Hilfe von 11 Millionen Polizisten und Soldaten.

Je nach Mission klettern sie auf die Berge des Himalaya im Norden Indiens. Oder sie überqueren das Arabische Meer im Süden, um auf die winzige Inselgruppe Lakshadweep zu gelangen. Um den Wählern in Siedlungen in den Wüstengebieten Rajasthans die Wahl zu ermöglichen, besteigen die Wahlleiter Kamele und ziehen in der Karawane los. In Meghalaya im Nordosten des Landes prallten die Boten der Regierung vor kurzem auf eine Respekt einflößende Barrikade: Eine Herde wilder Elefanten blockierte den Durchgang zu zwei Wahllokalen. Wildhüter halfen ihnen schließlich und befreiten sie aus ihrem Engpass.

Von jedem indischen Wohngebiet aus muss ein Wahllokal im Umkreis von zwei Kilometern zugänglich sein, so schreibt es das Wahlgesetz vor. Deshalb machten sich Anfangs des Monats zum Beispiel Wahlhelfer in Arunachal Pradesh im Nordosten Indiens auf einen beschwerlichen Weg. Fünf Stunden lang beförderten sie ein mehr als 10 Pfund schweres Abstimmungsgerät durch den Wald zu einem Weiler nahe der chinesischen Grenze, damit die zwei dort ansässigen Wähler ebenfalls ihre Stimme abgeben konnten.

Roy hat allerdings einen besonders schweren Auftrag aufgehalst bekommen. Von allen indischen Wahlbezirken schreckt die Inselgruppe der Andamanen und Nikobaren einen Reisenden wohl mit den schwierigsten Zugangsbedingungen ab. Allein um zu den über 550, meist dicht bewaldeten Inseln vorzudringen, muss der Überbringer der Wahlunterlagen vom indischen Festland aus 1.200 Kilometer hinter sich legen. Zu Zeiten der Kolonialherrschaft hatten die Briten von der fernen Inselwelt Gebrauch gemacht, indem sie politische Gefangene dort ins Exil verbannt hatten.

Doch Roy und seine Mannschaft machen sich auf. Drei Stunden lang fahren sie übers Wasser, bis sie schließlich völlig überhitzt ein Ufer erreichen und an einer schlammigen Waldlichtung an Land gehen. Nun steht Phase zwei der Reise an. Dazu müssen zunächst die Abstimmungsgeräte aus den Kanus gehievt werden. Vorsichtshalber wurden zwei Maschinen eingepackt – falls eine nicht richtig funktioniert. Die Geräte müssen sich die Wahlhelfer jetzt auf den Rücken binden und zusammen mit ihren Wasser- und Nahrungsvorräten und der Campingausrüstung ins Dorf Hanspuri schleppen.

Ein schmaler Pfad, den die Dorfbewohner angelegt haben, zieht sich in den Dschungel und hilft ihnen, den Weg zu finden. Er führt durch das dunkle Dickicht, bewahrt die Wahlhelfer und ihre Beschützer jedoch nicht vor wackeligen Behelfsbrücken, die nicht breiter sind als ein Schwebebalken. Sie tasten sich im Gänsemarsch vorwärts.

Dann endlich sind durch das Blätterwerk die Reetdächer und Palmen von Hanspuri erkennbar. In dem Dorf haben sich vor allem Migranten aus dem verarmten Bundesstaat Jharkhand im Osten Indiens niedergelassen. Die Wahlhelfer sacken am Ende ihrer Kräfte zu Boden. Einige fallen auf der Stelle in einen tiefen Schlaf. Als sie wieder einigermaßen dazu in der Lage sind, bauen sie die Wahlkabinen auf. Das improvisierte Wahllokal soll am nächsten Morgen um sieben Uhr aufmachen.

Roy war schon bei den Abstimmungen in den Jahren 1998, 1999, 2005 und 2009 als Wahlleiter eingesetzt. Doch als er nach dem beschwerlichen Rückweg endlich die Geräte in der Wahlzentrale des Distrikts abliefert, atmet er tief auf. „In all meinen Jahren war dies bei weitem die anstrengendste Mission.“


Quelle: „The Wall Street Journal“, www.wallstreetjournal.de