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Afghanistan: Kurze Zeit der Träume – Künstler ohne Zukunft

 
Meldung vom 06.05.2014

Die Künstlerszene in Afghanistan sieht mit Sorge der Zukunft entgegen. Ende 2014 sollen die in Afghanistan stationierten NATO-Truppen abgezogen sein. So heftig diskutiert die westliche Präsenz war – für die Schriftsteller und Künstler bedeutete sie doch eine kurze Atempause. Der junge Autor Taqi Akhlaqi äußert sich dazu.

„Das Jahr 2001 schien unser Leben für immer zu verändern. Menschen aus dem Westen kamen zu uns und hauchten unseren Träumen neues Leben ein“, sagt Akhlaqi. In der Zeit der Taliban-Herrschaft und davor während der Bürgerkriege wurden die Träume und Phantasien der Künstler verschüttet: Die Afghanen mussten sich so sehr um das reine Überleben kümmern, dass ihnen kein Raum für die Vorstellungskraft blieb. Jeder Tag, den sie überlebten, kam einem Wunder gleich. So konnte sich in dem Land jahrelang keine Phantasie entfalten, die wichtigste Vorbedingung für literarisches und künstlerisches Schaffen. Die Folgen für die afghanische Kultur waren desaströs. Die Aktivitäten der Schriftsteller beschränkten sich während dieser Zeit auf Berichte über den Krieg. Die Dichter litten an einer schöpferischen Krise. Es kamen keine Kunstwerke zustande, schöpferische Imagination konnte nirgendwo aufkommen.

Doch dann kam die Wende. Akhlaqi berichtet: „Mit der Anwesenheit des Westens kamen unsere verlorenen Phantasien wieder zurück. Ein neues Kapitel in der afghanischen Literatur- und Kunstgeschichte wurde aufgeschlagen. Die jungen und die alten Schriftsteller griffen mit Begeisterung zur Feder und erzählten ihre Geschichten, die Dichter schrieben ihre Liebeslieder, und die Künstler zeigten ihre Talente auf verschiedenen Gebieten.“

Viele Bücher wurden publiziert, bemerkenswerte Kunstmessen ins Leben gerufen, insbesondere in den ersten drei Jahren der Anwesenheit westlicher Truppen im Land. Die Kunstszene tat einen großen Schub nach vorne. Nach vielen Jahren der Enthaltsamkeit eröffnete sich eine unerschöpflich scheinende Quelle von Werken, die bis dahin nicht hatten erzählt, erschaffen oder gezeigt werden können. Zum ersten Mal entstanden private Verlage und Druckereien. Die Schriftsteller, die sich nicht mehr der offiziellen Zensur unterwerfen mussten, bekamen Auftrieb und veröffentlichten ihre Werke auf eigene Kosten.

Doch nach drei Jahren ebbte die Produktion von Literatur und Kunst wieder ab. Wie konnte das geschehen? Die Ursache dafür kann man in der nach Jahrzehnten der politischen und gesellschaftlichen Zensur verinnerlichten Selbstzurücknahme sehen, anderseits spielt auch der Geldmangel der Schriftsteller und Künstler eine wichtige Rolle.

Die Zensur gehörte in Afghanistan Jahrzehnte lang zum Alltag. Als Afghanistan noch eine Monarchie war, fühlten sich die Menschen daran gebunden, die Restriktionen, die der Hof erließ, einzuhalten. Auch als das Land eine Republik wurde, blieb die Zensur bestehen: Die wenigen Medien jener Zeit waren in staatlicher Hand.

Dann ergriffen die Kommunisten die Macht und brachten Bewegung in den Kulturapparat Afghanistans, allerdings nur zu propagandistischen Zwecken. Sie wussten, dass Kunst ein mächtiges Medium für Ideologiebildung ist. Sie schenkten der Literatur große Beachtung und versuchten insbesondere die Erzählkunst als literarische Form zu fördern. „Sie veranstalteten regelmäßig Festivals und Wettbewerbe für das Erzählen von Geschichten, unterstützten die Schriftsteller und regten an, Werke der Weltliteratur zu übersetzen und zu veröffentlichen. Doch dieser Kulturimport beschränkte sich bis zum Ende ihrer Regierungszeit auf die Übersetzung und Veröffentlichung russischer Schriftsteller. Dies führte dazu, dass unsere eigene Literatur – wie übrigens auch die bildende Kunst – vom sozialistischen Realismus tief beeinflusst wurde“, schildert Akhlaqi.

Die Zensur wurde in dieser Zeit immer strikter, so dass die Schriftsteller die Anordnung bekamen, Wörter wie Arbeiter, Arbeit, Bauer, Volk usw. unbedingt in jede ihrer Schriften einzuflechten; die bildenden Künstler waren gezwungen, nur Arbeiter und Bauern bei der Arbeit darzustellen. Die Schriftsteller, die zu Beginn der kommunistischen Machtergreifung auf eine Auferstehung der Literatur dank der staatlichen Förderung gesetzt hatten, verloren allmählich den Mut und zogen es vor, das Schreiben einzustellen und auf bessere Zeiten zu warten.

Stattdessen folgten auf die Kommunisten die Mujahedin mit ihren islamischen Gesetzen. Sie richteten große Zerstörung an, provozierten in kürzester Zeit Bürgerkriege und schufen damit die Voraussetzung für die Machtergreifung der Taliban. „So blieb die Freiheit des Schreibens und des Schaffens auch während dieser Zeit ein unerfüllter Wunschtraum der Schriftsteller und Künstler. Die Talente verkümmerten, und viele wertvolle Werke gingen in Erwartung der Freiheit verloren oder wurden zerstört“, erzählt Akhlaqi.

Als die NATO Einzug hielt und westliche Werte in das Land schwappten, hoben sich plötzlich die Barrieren. Viele und unterschiedliche Werke wurden in den ersten drei Jahren herausgegeben, die Zensur war endlich entfernt worden. Doch die Energie verpuffte bald. Die Schriftsteller und Künstler mussten sich einem inneren Problem stellen: der Selbstzensur. Obwohl die Zensur weg war, bremsen doch die alten Sitten, Gebräuche und ungeschriebenen Verhaltensregeln die Entwicklung von Literatur und Kunst. Akhlaqi gibt zu: „All dies hat dazu geführt, dass wir, obwohl wir offiziell frei sind, weiterhin von der Freiheit träumen.“

Zudem kann kein Künstler hier von seiner Kunst leben. Es gibt in Afghanistan kein zahlungsfähiges Publikum für die Kunst. Der Existenzkampf jedes einzelnen ist zu hart. „Der Kulturschaffende ist hier zunächst einmal Angestellter, Fahrer, Bodyguard, Sekretär, Buchhalter oder Ladenbesitzer und danach erst Schriftsteller oder Künstler“, so Akhlaqi.

Da Afghanistan durch die Medien in den westlichen Ländern bekannter wurde, gab es für einige afghanische Autoren dort auch einen Abnehmermarkt. Doch um ihre Werke ausländischen Lesern anbieten zu können, müssen sie Mittel und Wege für eine Übersetzung finden. Nur wenige haben das geschafft, so zum Beispiel die afghanischstämmigen Autoren wie Atiq Rahimi und Khaled Hosseini.

Zurzeit sind die Künstler in Afghanistan in permanenter Anspannung. Es ist möglich, dass mit dem Ende des Jahres 2014 die Phase des Auflebens der Kultur vorbei ist und „wir in ein Leben ohne Träume und Phantasien zurückkehren müssen“, sagt Akhlaqi. „Keiner weiß genau, was geschehen wird. Doch jeder macht sich Sorgen. Nach dem Abzug der NATO werden wir feststellen, wie abhängig wir von den Kontakten zum Westen sind. Viele Künstler haben schon jetzt ihre Märkte verloren, und die Schriftsteller versuchen, das Land zu verlassen.“

Auch die staatliche Unterstützung für Schriftsteller und Künstler wurde bereits eingespart. Keine Institution hat sich die Unterstützung von Literatur und Kunst in diesem Land zu ihrer eigenen Sache gemacht. Akhlaqi malt die Zukunft in düsteren Farben: „Afghanische Schriftsteller und Künstler werden mit dem Abzug des Westens ihre Träume auf der Suche nach dem täglichen Brot vergessen. Zurückgezogen, ohne Publikum, ohne Einkommen und ohne Unterstützung werden sie mit Selbstzensur und Sorge auf das Ende des Jahres 2014 warten, wobei alle wissen, dass die Zukunft – wie auch immer sie sich zeigt – noch schwieriger sein wird als die Gegenwart.“






Quelle: Gebende Hände-Redaktion; nach einer Information von: „Neue Zürcher Zeitung, NZZ Online“, nzz.ch

Schlagwörter: Afghanistan, Künstler, Literatur, Kultur, Künstlerszene, bildende Kunst, Publikum, Existenzkampf, Förderung, Phantasie, Krieg, Taliban, Abzug, NATO, ISAF, Westen, Kommunisten, Selbstzensur, Verlage, Druckereien, Abnehmermarkt, Schriftsteller, Autoren, Übersetzung, Mujahedin, Freiheit, Zensur, Atiq Rahimi, Khaled Hosseini