Global: Strom ohne Stromnetz – Neue Energiekonzepte für Entwicklungsländer

Meldung vom 23.05.2014

Manchmal befinden sich Entwicklungsländer mit den Industriestaaten auf gleicher Stufe oder sie haben sie gar überholt. In Kenia beispielsweise gehört es zum Alltag, per Handy die Miete oder die Schulgebühren zu überweisen. Die einzelnen Entwicklungsetappen vom Morsetelegraphen über Kohlemikrofone, Handvermittlung und der Wahlscheibe des analogen Telefons haben auch viele andere Länder einfach übersprungen: Mehr als 80 Prozent der Handys sind heute in Entwicklungsländern in Gebrauch.

In einem anderen Sektor zeichnet sich ein ähnlicher Prozess ab: Die Energieversorgung wird in Entwicklungsländern rasend schnell ausgebaut – allerdings oft Off-Grid, also unabhängig vom bestehenden Stromnetz. Anstelle von großen Kraftwerken, die über eine komplexe Infrastruktur Energie zu den einzelnen Haushalten leiten, sind es kleine Anlagen, die Erfolge verbuchen. Sie arbeiten eigenständig und generieren nur für Dörfer oder einzelne Häuser Strom.

Man könnte diesen Vorgang eine kleine technologische Revolution nennen – vielleicht sogar eine ökologische. Denn klimaschädliche Kohlekraftwerke oder Endlager für Atommüll sind bei Off-Grid-Lösungen unnötig.

Das wirtschaftliche Potenzial kommt bei diesen Anlagen insbesondere den Endverbrauchern vor Ort zugute: Es sind weniger Instanzen zwischengeschaltet, die bei jeder Kilowattstunde Strom einen Verdienst abzwacken. Vor allem besteht für viele Menschen durch die Kleinanlagen (meist sind es Solaranlagen) überhaupt zum ersten Mal die Möglichkeit, elektrisches Licht zu beziehen. Denn oft wollen oder können Staaten die nötigen Finanzen für die elektronische Infrastruktur nicht aufbringen.

Dass sich die Off-Grid-Systeme vor allem gut auf erneuerbare Energien stützen können, beweist der deutsche Leuchtmittel-Hersteller Osram. In Kenia hat er sich auf Solarsysteme fokussiert. Sonnenenergie gibt es im Ort Mbita am Viktoria-See grenzenlos. Dort hat das Unternehmen ein preisgekröntes Pilotprojekt durchgeführt, das alte Gewohnheiten der Bewohner aufgreift: Früher erstanden die Menschen den Brennstoff Petroleum in Geschäften, wenn sie einen Überschuss an Einkünften hatten. Damit sorgten sie am Abend für Licht in ihren Hütten, Geschäften oder Fischerbooten.

Heute erwerben die Menschen weiterhin kleine Mengen – allerdings steuern sie neuerding ein von Osram entwickeltes Energiezentrum an und tauschen wieder aufladbare, schuhkartongroße Batterien aus. Daran können sie zu Hause ihre Lampen oder Handys anschließen. Außerdem nutzt das deutsche Unternehmen in dem Fischerort eine weitere Eigenschaft der Sonne: Bakterien und Viren zu beseitigen – in einer solarbetriebenen Filteranlage, die nun Trinkwasser zur Verfügung stellt.

Aber nicht nur in Kenia greift eine Off-Grid Stromversorgung. Nepal ist das Land, das in der ganzen Welt am höchsten liegt. Fast die Hälfte der Landesfläche befindet sich auf mehr als 3.000 Metern Höhe. Dem Land im Himalaya-Gebirge fällt es daher schwer, die Infrastruktur auszubauen, um Dörfer an ein Energienetz zu schalten.

„Nepal ist ein armes Land“, sagt Kiran Man Singh, der dort als Energieexperte für das Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen (UNDP) tätig ist. „Wir haben kaum Ressourcen, weil wir ein Binnenstaat ohne eigene fossile Brennstoffe sind.

Deshalb wendet sich Nepal der Wasserkraft zu und will das enorme Gefälle der Flüsse nutzen, die mit großer Kraft durch die Berge des Landes fließen. Den Bau von mehr als 400 Mini-Wasserkraftwerken hat UNDP schon finanziert. Das sind meist 30 Kilowatt starke Anlagen. Das ist ausreichend, um den Stromverbrauch kleiner Orte zu decken. Straßen und Wohnhäuser können mit Licht versorgt werden und Handwerksbetriebe ihre Maschinen antreiben.

Die Mini-Wasserturbinen bergen einen sehr großen Vorteil: Im Gegensatz zu den riesigen herkömmlichen Staudämmen, für die oft Wälder abgeholzt oder Flussläufe künstlich verändert werden, bleibt der Eingriff in Nepals einzigartige Umwelt gering.

Letztlich können auf diese Weise auch Ressourcenkonflikte verhindert werden, die Mammutprojekte oft auslösen – insbesondere wenn mehrere Länder auf die Nutzung ein und derselben Energiequelle pochen. Der geplante „Rennaissance“-Staudamm am Nil beispielsweise sorgt für einen sich zuspitzenden Konflikt zwischen Äthiopien und Ägypten und den anderen Anrainer-Staaten.

Auch das Nachbarland Nepals, Indien, hat viele Maßnahmen ergriffen, um die Bevölkerung mit Energie zu versorgen. Vor fünf Jahren verfügten in den ländlichen Regionen schon 67 Prozent der Einwohner über den Zugang zur Stromversorgung. Bei der enormen Bevölkerung Indiens von über einer Milliarde Menschen sind die Stromausfälle aber immer noch schwerwiegend.

Das haben auch die beiden befreundeten Unternehmer Gyanesh Pandey und Ratnesh Yadav vor sieben Jahren erkannt und an einer Lösung gearbeitet. Wind weht in ihrer Heimat, dem Bundesstaat Bihar, wenig und die immer noch vergleichsweise hohen Kosten für Solaranlagen konnten sie nicht aufbringen. In rauen Mengen wurde jedoch in Bihar seit eh und je Reis angebaut, geerntet und verarbeitet. Als Rest entstand ein Abfallprodukt: Reishülsen.

Gyanesh Pandey hatte am Rensselaer Polytechnic Institute in Troy in New York mit seinem Kollegen für genau jenen Rohstoff eine Biogasanlage entworfen: Bei der Vergärung der Hülsen entwickelt sich Biogas, aus dem letztlich Energie bezogen werden kann. Sie riefen die Firma Husk Power Systems ins Leben, erhielten einen Kredit von der indischen Regierung und vernetzten einen 32-Kilowatt-Generator mit dem lokalen Stromnetz, das sie in einem Ort verlegen ließen. Mittlerweile decken 80 dieser Anlagen den Stromverbrauch von rund 200.000 Menschen – unter anderem auch in afrikanischen Ländern wie Uganda und Tansania.

Die Modelle aus Kenia, Nepal und Indien sind bei weitem keine Einzelfälle, sondern Teil einer größeren Bewegung. 349 Megawatt Leistung produzierten die Mikro-Netze im Jahr 2011 weltweit immerhin. Im nächsten Jahr erreichen die Werte voraussichtlich 1,1 Gigawatt. Das ist zwar immer noch bescheiden, denn die Leistung lässt sich gerade einmal mit der eines Kohlekraftwerkes vergleichen – doch der Trend ist bahnbrechend. Der weltweite Umsatz im Off-Grid-Markt könnte im Jahr 2020 dann auf 10,2 Milliarden Dollar klettern, wie das auf saubere Energien zentrierte Beratungsunternehmen Navigant Research erhoben hat.

Gebende Hände beteiligt sich ebenfalls an der Entwicklung von Off-Grid-Systemen. In Kenia finanziert Gebende Hände Solaranlagen, mit denen Strom für Wassergewinnung generiert wird.


Weiterführende Informationen

 Kenia: Wie hilft Gebende Hände?


Quelle: „Wirtschaftswoche“, www.wiwo.de