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Afghanistan: Was vom Krieg übrig bleibt – NATO-Blindgänger

Meldung vom 02.12.2014

In Afghanistan hinterlässt der jahrelange Krieg viele sichtbare und unsichtbare Spuren. Eine ist besonders blutig – sie besteht aus NATO-Blindgängern. Noch immer sterben daran Menschen, hauptsächlich Kinder. Sie spielen in vermintem Gelände und treten auf Blindgänger. Obwohl die NATO versprochen hat, das Gelände von Munition zu befreien, kommt sie ihrer Verantwortung nicht nach – Deutschland ist keine Ausnahme.

Für Mohammed Sediq öffnet sich das Kapitel im Herbst 1989 auf einem Minenfeld nahe der Stadt Ghazni. Die sowjetischen Besatzer haben wenige Monate zuvor Afghanistan verlassen. Bei einem Raketenangriff starb Sediqs Bruder. Sediq musste mit der restlichen Familie fliehen und entkam über die Grenze nach Pakistan. Dort wurde er von einem Team der UN geschult, wie man Minen und Blindgänger räumt. Nun geht Sediq in seine Heimat zurück, um die Kriegsaltlasten der Sowjets zu räumen – mehr als 20 Millionen Minen und Blindgänger.

Er geht ohne Schutzausrüstung zur Sache, ein einfacher Metalldetektor und ein Stab sind seine Ausrüstung. Damit bohrt er Zentimeter für Zentimeter in die Erde. Bis ein hässliches Kratzen an sein Ohr dringt. Das Kratzen bedeutet, dass der Stab eine Mine getroffen hat. An diesem Tag hört Sediq das Kratzen nicht, er wird von einem riesigen Knall erschüttert.

Das Nächste, das ihm im Gedächtnis geblieben ist, ist sein blutender Kollege, blind von der Explosion, beide Hände abgerissen, der Oberschenkel zerfetzt. Sediq bemüht sich, die Blutungen zu unterbinden, irgendwann schaut der Kollege ihn an. „Ich werde es nicht schaffen, ich werde sterben“, sagt er, „aber versprich mir, dass ihr nicht aufhört, bevor die letzte Mine, der letzte Blindgänger, in Afghanistan geräumt ist.“ Sediq nickt nur und ist sich bewusst, dass dieser Moment in seinem Gedächtnis eingebrannt bleibt.

Deswegen räumt er weiter Minen. Fast jeden Monat erlebt er, dass ein Kollege von einer Mine verkrüppelt oder getötet wird. Nach den Sowjets kommt der Bürgerkrieg, dem Bürgerkrieg folgen die Taliban, den Taliban folgt die NATO. Inzwischen steht er der Kampfmittelräumung im ganzen Land vor. Jeden Tag sind tausende Männer damit beschäftigt. 16,5 Millionen Blindgänger und eine Millionen Minen haben sie inzwischen entschärft oder gesprengt – alle stammen aus früheren Kriegen.

2013 waren nur noch 520 Quadratkilometer Land kontaminiert. Bald würde Sediq das Versprechen an seinen toten Kollegen eingelöst haben. Es hat 25 Jahre gedauert. Hätten Sediq und seine Leute über Karten verfügt, die von Minenfeldern, Luftangriffen und Kampfschauplätzen gemacht wurden, Afghanistan wäre weitaus zügiger befreit gewesen von dem tödlichen Schrott. Fünf Jahre, meint Sediq, hätten sie benötigt. Aber die Informationen waren beim Abzug verschwunden. Sediq fand ein Minenfeld immer erst, wenn jemand ums Leben kam.

Für die Bundesregierung beginnt dieses Kapitel mit einer Unterschrift. Genf, November 2003. Deutschland und 83 andere Staaten versprechen in einem internationalen Abkommen (CCW, Protokoll V), die Risiken und Auswirkungen explosiver Kriegsreste zu reduzieren. Sie sollen die Bevölkerung vor den Gefahren von Blindgängern aufklären. Sie sollen offenbaren, wo gekämpft wurde und wo trainiert. Und sie sollen diese Informationen den „Parteien vor Ort“ zuspielen.

Sie sagen zu, „unmittelbar nach dem Ende aktiver Feindseligkeiten“ Blindgänger aufzuspüren und unschädlich zu machen. Während der Verhandlungen gemahnte ein Vertreter der UN, künftig werde es nicht mehr möglich sein, „zu schießen und zu vergessen“. Das Abkommen sollte beim Aufräumen helfen und das tödliche Erbe, das jeder Krieg hinterlässt, zu vernichten.

Die Geschichte von Mohammed Sediq und den Blindgängern der NATO ist auch eine Geschichte darüber, wie die NATO ihre eigenen Versprechen brach. Der Verrat zeichnet sich nach einem großen Unglück im Februar 2013 ab. Es gibt eine Explosion in Bamyan, 400 Kilometer von Kabul entfernt. Zwei Jungen erleiden schwere Verletzungen. Sie wollten Holz sammeln und waren mit ihrem Esel in ein Tal vorgedrungen, in dem früher ISAF-Truppen ihr Training absolvierten. Nach und nach beluden sie den Rücken ihres Esels mit Ästen, irgendwann rutschte das Bündel herunter – und fiel auf einen Blindgänger. Er detonierte sofort.

Der Oberkörper des einen Jungen wurde durchlöchert, den anderen durchsiebten Splitter. Ärzte und Munitionsexperten haben die Verletzungen festgehalten und die Unfallstelle inspiziert. Bei dem Blindgänger handelt es sich offenbar um eine 40-Millimeter-Granate der NATO. Auf dem Gelände wurden hunderte solcher Geschosse entdeckt. Die Truppen hatten sie auf dem Übungsgelände verstreut, wo die Jungs jetzt Holz sammelten. Es gab keine Absperrungen, Warnhinweise oder Pläne, das Gelände räumen zu lassen.

Als Sediq von dem Unglück der beiden Jungen hört, erinnert er sich an die Zeit nach dem Abzug der Sowjets. Er fühlt den inneren Auftrag, der NATO das Problem zu erklären. In mehreren Treffen berichtet er über die Unfälle, die Blindgänger, die Schießbahnen. Er schildert, welche Informationen seine Leute benötigten, um die Munition zu räumen, und unterstreicht, wie schnell das dann abliefe; er verweist auf seine Erfahrung und Routine.

Die NATO hüllt sich in Schweigen. Es kommt keinerlei Reaktion. Sie händigt keine Belege aus, ob und wann sie ihre Trainingsgelände von Munition befreit hat. Stattdessen registrieren Sediq und die afghanische UN-Mission Unama die Unglücksfälle. Sediq versucht alles: er hält Vorträge vor Botschaftern, Hilfsorganisationen und afghanischen Ministern, verfasst Briefe. Alles mit wenig Resonanz. Inzwischen verzweifelt er bei jedem neuen Toten.




Quelle: Gebende Hände-Redaktion; nach einer Information von: „Der Tagesspiegel“, tagesspiegel.de

Schlagwörter: Afghanistan, Blindgänger, Minen, Gelände, Munition, Waffen, Krieg, NATO, ISAF, Räumung, Entschärfung, Verletzungen, Tote, Bundeswehr, Abkommen, Kriegsaltlasten, Minenfelder, Karten, Luftangriffe, Militär, Kampfschauplätze