Afghanistan: Wo Mädchen sich das Skateboard erobern

Meldung vom 17.06.2015

Ein Mädchen mit Kopftuch flitzt auf dem Skatboard inmitten von Kabul – ein ungewohnter Anblick in Afghanistan. Und doch ist er Wirklichkeit geworden. Vor acht Jahren rief ein Skater ein Hilfsprojekt ins Leben, das Kinder in den Skatepark bewegte. Heute ist Skaten in Afghanistan eine der beliebtesten Freizeitaktivitäten – vor allem bei den Mädchen.

Als der australische Skateboarder Oliver Percovich vor acht Jahren auf seinem Rollbrett durch Kabul unterwegs war, strömten die Kinder und Jugendlichen in Massen zusammen, um ihn zu beobachten: Die meisten von ihnen sahen ein Skateboard zum ersten Mal, und allesamt waren sie begeistert von den Kunststücken, die der Australier mit seinem Brett vorzeigen konnte. Dass aus diesem Besuch eine langjährige Entwicklungszusammenarbeit hervorgehen würde, die besonders den in Afghanistan sozial benachteiligten Mädchen zu gute kommen würde und ihnen Raum für individuellen Ausdruck und Selbstverwirklichung bietet, war Percovich damals noch nicht klar.

Der Skateboarder nahm jedoch schnell wahr, welch positiven Einfluss seine Sportart auf die afghanischen Kinder hatte, und so wurde aus einem kurzen Besuch bei seiner Freundin eine lebenslange Aufgabe: „Wir brauchen das Skateboard als Werkzeug, um die Jugend zu ermächtigen, neue Chancen zu kreieren und das Potenzial für gesellschaftlichen Wandel bereitzustellen.“

Direkt neben dem olympischen Stadion, in dem die Taliban vor wenigen Jahren noch öffentliche Steinigungen durchführten, wurde auf einer Fläche von 1.750 Quadratmetern ein Skatepark gebaut, auf dem Jungen sowie Mädchen sich in der Öffentlichkeit gemeinsam sportlich betätigen – das ist eine einzigartige Ausnahme im islamisch-konservativen Afghanistan.

Fahrradfahren, Fußballspielen, Drachenfliegen und andere Sportarten sind 2015 in Afghanistan für Mädchen noch immer nicht gestattet oder nicht gerne gesehen. Da Skateboarden bei den Sittenwächtern allerdings noch nicht offiziell als Sportart gilt, stellt es für die Mädchen eine sportliche Nische dar. Die Mädchen waren sofort begeistert bei der Sache, heute stehen die meisten afghanischen Mädchen schon auf dem Brett.

Schnell nahmen sich Medien und Politik des Themas an. Denn das Hilfsprojekt zog nicht nur Kinder von der Straße weg, sondern eröffnete ihnen auch einen kostenlosen Zugang zu Bildung. Neben der Möglichkeit zu skaten wird den Kindern im Rahmen des Projektes auch Unterricht in Kultur und Gesellschaft, Gesundheit, Religion, Englisch sowie Dari, der Nationalsprache des Landes geboten.

Vor allem aber schulen sie sich im Umgang miteinander. Ob arm oder reich, Mädchen oder Junge – auf dem Skateboard gibt es keine Unterschiede mehr, erklärt das Hilfswerk die Wirkung, die die Sportart auf die Kinder hat. Das Skateboard ermögliche den Kindern das, was in Kabul so selten sei: sie dürfen Kinder sein. Ein Mädchen erzählt: „Bevor ich angefangen habe zu skaten, war das Leben sehr langweilig für mich. Ich arbeitete jeden Tag als Kaugummiverkäuferin.“

Auch wenn sie mit ihrem Skateboard auf der Straße von fremden Passanten noch immer strafend angeschaut wird, konnte sie die Zweifel von einigen Männern aus ihrer Familie gegenüber Sport treibenden Mädchen bereits auflösen. Ihr Vater und ihre Brüder stünden voll und ganz hinter ihr, so die Skaterin. Die Männer machten ihr Mut, mehr Sport zu treiben.

Auch wenn sich gesellschaftliches Umdenken im konservativen Afghanistan nur langsam vollzieht, blicken die Initianten des „Skateistan“-Projekts nach acht Jahren auf eine äußerst produktive Zeit zurück. Das Projekt habe sich enorm gesteigert, Hunderte von Kinder hätten durch das Skaten mehr Selbstbewusstsein erlangt und könnten sich besser in der Zivilgesellschaft behaupten. Mittlerweile wurden auch „Skateistan“-Projekte in Kambodscha und Südafrika aufgebaut, weitere Ableger sollen in Angriff genommen werden. Man darf also damit rechnen, dass immer mehr Kinder in Krisenländern sich auf Rollbrettern die Welt erobern werden.


Quelle: Gebende Hände-Redaktion; nach einer Information von: „Basler Zeitung“, bazonline.ch