Indien: 100 „Smart Cities“ nur für Reiche

 
Meldung vom 30.06.2015

Nein, es ist keine Science Fiction: Indien plant den Bau von 100 futuristischen Städten, zu denen nur Reiche Zutritt haben sollen. Indien plagt sich mit einer zunehmenden Urbanisierung. Die Straßen in den Großstädten sind verstopft, Müllberge entstehen, die Kanalisation ist überlastet. Alles ist überfüllt und schmutzig. Nun hat die Regierung einen neuen Weg erdacht.

Indien muss schon jetzt mit mehr als 50 chaotischen, aus allen Nähten platzenden Millionenstädten zurechtkommen. Sie vergrößern sich in rasantem Tempo weiter. Die ausufernden Städte sind Zeichen des enormen Bevölkerungswachstums und der Armut auf dem Lande. 404 Millionen Menschen mehr als heute sollen nach UN-Schätzungen im Jahr 2050 in die indischen Städte strömen. „Der Großteil unserer urbanen Infrastruktur ist noch nicht gebaut“, meinte Indiens Premierminister Narendra Modi dann auch jüngst.

Deswegen trägt sich Modi nun mit einer neuen Absicht: In den kommenden Jahren sollen 100 „Smart Cities“ hochgezogen werden. Das sollen durchgestylte Millionenstädte mit funktionierender Kanalisation, staufreien Straßen, Strom- und Wasserversorgung werden. Das sind Bedingungen, die in den meisten derzeitigen Städten nur sporadisch zu finden sind. Geplant ist der Bau dieser Städte im Nirgendwo, auf einer grünen Wiese.

In der sogenannten „GIFT City“ kann man von einer Wiese nicht mehr reden – es ist eher eine braune vertrocknete Steppe. In einer Halbwüste im westlichen Bundesstaat Gujarat, irgendwo zwischen dem ökonomischem Zentrum Ahmedabad und der eigentlichen Hauptstadt Gandhinagar, wird die erste Smart City aus dem Boden gestampft. Bisher wurden nur zwei Glastürme errichtet, je 28 Stockwerke hoch, die wie Fremdkörper aus dem 358 Hektar großen Ödland herausragen.

Dipesh Shah aber zeichnet mit seinen Händen futuristische Gebäude und Anlagen vor Augen, wenn er die Zukunft der Finanzstadt Gujarat International Finance Tec-City (GIFT) ausführt. „Wir werden einen kilometerlangen Tunnel haben, durch den die Gebäude mit trinkbarem Wasser, Strom, Gas und einer zentralen Kühlung versorgt werden“, begeistert sich der Vizepräsident von GIFT City. Fäkalien werden mit 90 Stundenkilometern weggeschwemmt – schneller als die meisten indischen Züge fahren.

GIFT City wird sich mit Sicherheit zu einem Fremdkörper entwickeln in einem Land, in dem 300 Millionen Menschen ohne Stromversorgung sind und etwa die Hälfte ohne sanitäre Einrichtungen überleben muss. Im Masterplan wird die GIFT City hochtrabend mit La Défense in Paris, Shinjuku in Tokio und den Docklands in London gleichgestellt. Shah stellt eine Million Jobs ins Aussicht und schwärmt von dem einen Kilometer langen künstlichen See, Krankenhäusern, Schulen und Hotels, die entstehen sollen.

Doch Zweifel regen sich zu diesem Großprojekt. Es sei überhaupt keine Nachfrage nach einem internationalen Finanzzentrum in Indien, meint etwa der politische Analyst Rajiv Shah, der mit dem GIFT-Vizepräsident nicht verwandt ist. Da GIFT City aber ein Vorzeigemodell von Modi sei, würden höchstens staatliche indische Banken dazu gezwungen, ein paar Büros dorthin zu verlegen. Die GIFT-Betreiber räumen selbst ein, dass sie bei der Messe Hannover einen Stand hatten, aber niemanden von sich überzeugen konnten. Nur Interessenten aus Indien hätten sich bislang gemeldet.

Unmut weckt auch die Exklusivität der Smart Cities. Um GIFT City wird eine hohe Mauer gezogen werden, Einlass in die Stadt wird nur mit Ausweis gewährt. Für die Bettler, aber auch die allgegenwärtigen Obst- und Gemüsehändler, Rikscha-Fahrer, Altpapiersammler und Schuhputzer ist der Zutritt verboten, das betrifft auch Automechaniker, Schneider oder Tischler. Die Städte sollen „klinisch rein“ sein. „Die Kunststadt wird immer von anderen echten Städten abhängig sein“, gibt der Architekt Chinmay Patel zu.

Die Smart Cities sollen mit jeder entwickelten europäischen Stadt mithalten können, heißt es in einem Papier des Entwicklungsministeriums in Neu Delhi. Doch Studien dokumentieren, dass Indien eigentlich Unterkünfte für die Ärmeren benötigt. Fast 19 Millionen Wohnungen gibt es zu wenig, die Wohnungsnot betrifft hauptsächlich die unteren Einkommensschichten, lautet es im jüngsten Wirtschaftsbericht der Regierung. Dafür sind Millionen Wohnungen für die obere Mittelschicht derzeit unbewohnt.

Die 842 Millionen Euro für die Smart Cities sollten nicht nur für die bereits hofierte Mittelklasse angelegt werden, sondern für integrierende Städte, fordert der indische Architekt und Autor Gautam Bhatia. „Lösungen gibt es nur, wenn die Reichen und Armen zusammen leben – wie es in alten indischen Städten üblich war“, betont er. In Hochhäusern könnten zum Beispiel einzelne Stockwerke für das Dienstpersonal entstehen. „Stattdessen werden Zäune hochgezogen, um das andere, das jämmerliche Indien nicht hereinzulassen.“


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Quelle: „Mittelbayerische“, www.mittelbayerische.de