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Afghanistan: Kabul öffnet sich für Gefühle – Das „Radio der Herzen“

Meldung vom 05.08.2015

In Afghanistan war es bislang verpönt, offen über Gefühle oder die Liebe zu reden. Doch das konservativ-religiöse Land erlebt nach der Entmachtung der Taliban-Herrschaft im Spätherbst 2001 eine kleine Gefühls-Revolution. Heute bieten fast 250 Radiostationen und fast 90 Fernsehsender ihre Dienste im Land an. Über zwei Millionen Afghanen surfen im Internet, eine weitere Million verfügt über Smartphones. Die neuen Medien haben vor allem Einfluss auf das Leben der jungen Menschen in den Städten. Viele wollen über die Liebe und über gebrochene Herzen kommunizieren – wie die Einschaltquoten einer beliebten Radiosendung aus Kabul darlegen. Sie heißt „Die Nacht der Liebenden“.

„Hier ist Radio Arman, das Radio der Herzen, mit der Nacht der Liebenden.“ Moderatorin Hadia ist der Mittelpunkt der Sendung, die jeden Mittwochabend von 21 Uhr bis Mitternacht ausgestrahlt wird. Nicht live, sondern tagsüber vorab aufgezeichnet. Es ist riskant, offen über die Liebe zu sprechen.

Arman FM kann sich das erste private Unterhaltungsradio in Afghanistan nennen. Der Sender zählt zur größten afghanischen Mediengruppe Moby, die sich auch politisch auf viel Rückendeckung verlassen kann. Andere haben sich bisher noch nicht getraut, das heiße Eisen Liebe anzufassen. „In unserer Show geht es um junge Menschen. Um ihr Leben, ihre Probleme. Afghanistan ist eine sehr traditionelle, konservative Gesellschaft. Liebe, sich zu verlieben, darüber wird nicht offen gesprochen. Die Familien wollen nicht, dass sich ihre Söhne und Töchter verlieben. Das ist ein Tabu. Die Familien wollen kontrollieren, wen ihre Kinder heiraten“, erläutert Hadia.

Die Moderatorin ist 35, sie ist Ehefrau und versorgt fünf Kinder. Auch ihre Ehe war arrangiert. „Liebe ist etwas Wunderschönes. Ohne Liebe ist das Leben nicht lebenswert“, erklärt sie. Aber die Moderatorin hält sich in der „Nacht der Liebenden“ damit zurück, Ratschläge zu verteilen. Die Sendung dient eher als Sprachrohr für Menschen mit gebrochenen Herzen. Hadia legt das Konzept dar: „Unser Programm ist wie ein Freund für die jungen Menschen. Wir wollen ein Ansprechpartner für alle sein, die mit niemandem über ihre Gefühle sprechen können. Diejenigen, die in der Liebe verloren haben, bitten mich oft, ihre Geschichte mitzuteilen, damit andere nicht den gleichen Fehler machen.“

Die Liebenden können sich melden und ihre Geschichte aufnehmen lassen. Oder sie können per Email oder Facebook Kontakt aufnehmen. Hadia und ihr Co-Moderator Omid lesen die Geschichten dann vor. Das Ganze verläuft kommentarlos, das Publikum soll sich selbst darüber eine Meinung bilden. In jeder „Nacht der Liebenden“ ist Raum für rund 20 Schicksale. Die Sendung wird mehr von jungen Frauen als jungen Männern frequentiert: „In einer konservativen Gesellschaft wie der afghanischen ist es für beide Geschlechter schwer, ihre Gefühle offen auszudrücken. Aber für die Jungen gibt es mehr Freiheiten als für die Mädchen. Jungen haben mehr Macht und mehr Mitspracherecht in ihren Familien. Für Mädchen ist es so gut wie unmöglich, selber zu entscheiden“, weiß Hadia.

Aber viele können heute ihre Chance nutzen. Eine typische Geschichte erzählt sich so: „Liebe Hadia, wie geht es dir?“, fragt eine junge Frau. Der Anrufbeantworter hat ihre Geschichte schon vor Stunden festgehalten. Die anonyme Anruferin ist Studentin und verliebte sich an der Uni in einen ihrer Mitstudenten. Er fragte sie, ob sie ihn heiraten wolle. Die Familien wurden informiert. Und auf einmal verschwand er. Keine Spur mehr von dem jungen Mann. Wurde er verschleppt? Das Mädchen ist außer sich. Ihre Eltern wollen jetzt eine andere Ehe arrangieren.

Moderatorin Hadia fühlt mit ihren Anrufern mit. Vor allem, wenn Gewalt im Spiel ist. Wenn Zwangsheirat, körperliche und seelische Qualen und Vergewaltigung zur Sprache kommen. Aber sie muss einen kühlen Kopf bewahren und Distanz halten, so ordnet es das Konzept der Sendung an. „Die meisten Geschichten sind tragisch. Liebende werden bestraft. Dafür gibt es viele Gründe. Die jungen Liebenden bekommen keine Unterstützung von ihren Familien. Es gibt ethnische Schranken in der Gesellschaft. Ein Paschtune aus Kandahar kann nicht einfach ein tadschikisches Mädchen aus Kabul heiraten. Auch die Religion spielt eine wichtige Rolle. Eine Sunnitin kann nicht einfach einen Schiiten heiraten. Die Familie versucht dann, schnell innerhalb des eigenen Clans etwas zu arrangieren – eine Hochzeit mit einem Cousin oder einer Cousine. Es geht immer um die Ehre der Familie, nicht um den Einzelnen. Wenn das Mädchen dann zum Beispiel wegläuft, dann landet sie irgendwann im Gefängnis. Auch der Junge spielt mit seiner Zukunft. Unsere Gesellschaft bestraft die freie Liebe.“

In jeder „Nacht der Liebenden“ wird sogar ein Schicksal aus dem Gefängnis erzählt. Hadia besucht regelmäßig Frauengefängnisse, um sich dort nach Geschichten umzuhören. „Ich habe im Gefängnis ein Mädchen namens Nilofar getroffen. Sie ist erst 19. Sie hatte sich in einen Jungen aus ihrer Nachbarschaft verliebt, der sie ausgenutzt hat. Die beiden haben miteinander geschlafen. Er hat ihr ihre Würde und ihre Jungfräulichkeit genommen, und er hat sie betrogen. Er hat längst ein anderes Mädchen geheiratet. Nilofar hat ihre Eltern und ihre Zukunft verloren. Die Eltern haben sie ins Gefängnis werfen lassen.“

Die Radiogeschichten aus der „Nacht der Liebenden“ richten sich an Menschen in 18 von 34 afghanischen Provinzen. Man kann sie als einen Gefühls-Aufbruch in einem kriegsgeplagten, traumatisierten Land deuten, in dem Emotionen systematisch unterdrückt und verborgen werden. Nach jeder Sendung laufen hunderte Facebook-Kommentare ein. Ein Beweis für den Erfolg der Sendung.

Aber es gibt auch böse Stimmen. Sameen, der 25-jährige Manager von Arman FM, lässt sich davon nicht beeindrucken. Er hat die Sendung entworfen, die am Valentinstag 2014 zum ersten Mal zu hören war. „Das ist wirklich lustig. Es gibt über 1.000 Facebook-Kommentare, die sagen: Ihr seid nicht afghanisch, du bist kein Afghane, du bist aus dem Ausland finanziert, du bist ein Amerikaner. Für Afghanen ist alles Fremde amerikanisch. Die Kommentatoren wollen zeigen, dass sie gute Afghanen sind. Aber ich gucke mir dann manchmal ihre Facebook-Profile an und stelle fest, dass sie sich Sexseiten angesehen haben. Die kritisieren uns, damit sie vor anderen gut aussehen“, betont er.

Die „Nacht der Liebenden“ deutet auf ein neues Phänomen in Afghanistan. Denn die sich etablierenden Medien in Afghanistan stecken neue Freiräume ab – auch für Frauen. Sie verhelfen einer konservativ-religiösen Gesellschaft, die seit 40 Jahren unter Krieg und Gewalt leidet und den Rückzug ins Private gewohnt ist, zu einer neuen Öffnung. Die Öffnung erlaubt es, Liebe zu fühlen – aber auch neuen Schmerz. Der verborgene afghanische Liebeskummer wird mehr und mehr spürbar wie beim Nachlassen einer langen Betäubung.




Quelle: Gebende Hände-Redaktion; nach einer Information von: „ARD-Nachrichten online“, ard.de

Schlagwörter: Afghanistan, Radio, Medien, Liebe, Frauen, Gesellschaft, Veränderung, Kultur, Tradition, Zwangsheirat, Vergewaltigung, Ehe, Familie, Facebook, arrangierte Ehe, Radiosendung, Liebende, Nacht der Liebenden, Jugend, Studenten, Islam, Frauengefängnisse