Afghanistan: Wenig Lohn – Viele Deserteure

Meldung vom 04.09.2015

Die afghanischen Sicherheitsdienste stecken in einer Krise: Ihnen laufen die Soldaten und Polizisten scharenweise davon. Seit dem Abzug der meisten NATO-Truppen aus Afghanistan ist dieser Trend schlimmer geworden. Gleichzeitig spitzen sich die Kämpfe zwischen den Taliban und afghanischen Streitkräften zu. An den Checkpoints in Kabul ist man in ständiger Anspannung. In jedem Wagen könnte sich ein Selbstmordattentäter verbergen. Einer hat sich im April 2015 vor einer Polizeistation im Zentrum der Stadt hochgejagt. Ein Polizist deutet auf eine tiefe Kule im Beton: „Hier sprengte sich der Taliban um halb fünf Uhr nachmittags in die Luft. Acht oder neun Autos wurden zerstört und zwei unserer Polizisten verletzt.“

Die Taliban haben sich zum Ziel gesetzt, die Regierung Afghanistans zu stürzen. Sie nehmen seit dem Abzug der NATO-Truppen Ende 2014 wieder Land ein – trotz der 350.000 Mann starken afghanischen Sicherheitstruppe und obwohl die NATO immer noch 13.000 Mann zur Unterstützung der Truppen dort gelassen hat.

Vor einer Woche verwiesen die Taliban auf ihren aktuellsten Triumph: Sie nahmen das Distrikt-Hauptquartier von Musa Qala in Helmand im Süden Afghanistans ein. Dieser Standort hatte Symbolwert. Die Briten hatten vor Jahren um Musa Qala harte Gefechte ausgetragen und dabei Dutzende von Soldaten geopfert. Der Ort ist strategisch wichtig. Er liegt auf der Opiumroute. Die Taliban besetzten Musa Qala, obwohl die NATO Luftangriffe auf die Kämpfer flog und viele von ihnen tötete.

Wenige Tage später hat die afghanische Armee den Standort zurückerobert. Aber Musa Qala ist kein Einzelfall, sondern seine kurzfristige Eroberung durch die Aufständischen scheint deren Strategie zu entsprechen. Die Taliban gingen in den letzten Wochen hundertfach auf Konfrontationskurs – und zwar nicht wie bislang nur in ihren Hochburgen im Süden und Osten des Landes, sondern sie wagten auch Vorstöße im Norden und im Landesinnern.

Graeme Smith von der International Crisis Group in Kabul beobachtet bürgerkriegsähnliche Zustände in Afghanistan: „Der Krieg eskaliert. Das haben wir vorausgesagt. Die Taliban erobern zwar nur kleine Gebiete, aber die politische Wirkung ist riesig. Denn die Taliban-Kommandanten fühlen sich militärisch gestärkt und sind deshalb weniger bereit für Verhandlungen und Friedensgespräche.“

Der Krieg könne noch jahrelang so weitergehen, sagt Smith. Und das lässt die Bevölkerung ausbluten, aber auch die afghanischen Sicherheitsdienste. Mehr als 5.000 Soldaten und Polizisten kamen seit Jahresbeginn in Afghanistan ums Leben – um die Hälfte mehr als im Vorjahr. Die Soldaten und Polizisten desertierten in Scharen, klagte General John Campbell in einer Talk Show in der Brookings Institution in Washington Anfang August. Campbell führt die NATO-Truppen in Afghanistan an.

„Die afghanischen Sicherheitstruppen verlieren etwa 4.000 Mann pro Monat. Die meisten nicht im Kampf, sondern weil sie desertieren. Einige haben zwei, drei Jahre lang ohne Pause in Helmand gekämpft. Dann gehen sie nach Hause und kehren nie mehr zurück. Es mangelt an Führung. Das ist das Hauptproblem“, kritisiert Campbell.

Afghanische Soldaten schildern, wie mitten im Kampf das Benzin aufgebraucht ist. Wie sie von Taliban in die Enge gedrängt werden und niemand kommt zu Hilfe. Viele müssen monate- oder jahrelang auf ihrem Posten ausharren. Doch sie können nicht auf ihr Gehalt zurückgreifen, weil es im Kampfgebiet keine Banken gibt.

Auch die anderen Bedingungen sind nicht gerade attraktiv. Das Essen ist mangelhaft, die Unterkünfte lassen zu wünschen übrig. Kein Wunder, dass Tausende den Urlaub nutzen, um sich davonzumachen. Obwohl die internationale Gemeinschaft Milliarden von Dollar in den Aufbau der afghanischen Sicherheitstruppen gesteckt hat, seien Geheimdienst und die Logistik noch nicht ausreichend ausgebaut. Die Luftwaffe stecke in den Kinderschuhen, ein stabiles, mittleres Kader sei nicht vorhanden, so Campbell.

Die afghanischen Sicherheitstruppen sind nur noch da aus einem Grund, fügt Smith hinzu: „Es wird viel Geld in die Rekrutierung von neuen Soldaten investiert. Auch ihr Lohn ist relativ hoch. Die afghanischen Sicherheitskräfte verschlingen extrem viel Geld.“

Mehr als fünf Milliarden Dollar pro Jahr werden dafür veranschlagt. Den größten Anteil stemmen die USA. Bis 2017 ist die ausländische Finanzierung der afghanischen Sicherheitstruppen zugesagt. Was danach folgt, soll beim NATO-Gipfel im kommenden Sommer beschlossen werden. Doch ohne ausländische Gelder wird es keine afghanischen Truppen geben. Darin stimmen Smith und Campbell überein.


Quelle: „Schweizer Radio und Fernsehen“, www.srf.ch