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Somalia: Lewiston – Wie Klein-Mogadischu an der amerikanischen Atlantikküste entstand

Meldung vom 17.03.2016

In Lewiston wohnen 36.000 Menschen. Jeder siebte Bürger ist ein Flüchtling aus Somalia. Das hat die Stadt verwandelt – und vielleicht auch frischen Wind gebracht.

Sie ragt aus den übrigen Waren in den Lebensmittelregalen heraus, die alte Nähmaschine aus Japan. Man sieht ihr an, dass sie abgenutzt ist und intensive Dienste leisten musste, aber nun macht sie den Eindruck eines Ausstellungsobjekts für ein Museum. Ein Exponat, das Shukri Abasheikh an die Härten des Neubeginns gemahnt, als sie nach Lewiston kam und mit Näharbeiten ihren ersten Unterhalt verdiente.

Heute ist sie Eigentümerin eines weithin bekannten Ladens, dem „Mogadishu Store“ an der Lisbon Street, der Hauptstraße Lewistons, einer 36.000-Einwohner-Stadt in Maine, im Hinterland der Atlantikküste. Hier setzen Touristen selten einen Fuß hin. Neben der Kasse türmen sich Sambusas, mit Rindfleisch und Gemüse gefüllte Teigtaschen. In einer Gefriertruhe kann man Plastiktüten mit Ziegen- und Kamelfleisch erkennen, letzteres wurde aus Australien herbeigebracht.

In der Luft liegt ein Duft nach Basmati-Reis und Kardamom, wie die meisten ihrer Kundinnen trägt Shukri Abasheikh bunt gemusterte Tücher. Auf einem Foto steht sie neben Barack Obama, das Foto stammt aus Portland, der Hafenmetropole, wo der Präsident Flüchtlinge besuchte, um deren kleine Erfolgsgeschichten anzuhören.

Seit 2005 existiert der „Mogadishu Store“, einer der ersten somalischen Läden an der Lisbon Street. „Als wir herkamen, spukten in den Häusern die Geister“, berichtet Mohamud ironisch. Er will damit zum Ausdruck bringen, wie heruntergekommen das Viertel einmal war. Die backsteinroten Textilfabriken am Androscoggin River, die der Stadt die Definition eines Industriestandorts eingebracht hatten, waren längst in Billiglohnländer weitergezogen. Lewiston musste den Weggang eines Siebtels seiner ursprünglichen Bevölkerung verkraften. Die Jungen ergriffen die Flucht, wer blieb, versorgte sich preiswert bei Wal-Mart am Stadtrand. „Wir haben die Geister vertrieben. Wir haben der Stadt neues Leben eingehaucht“, freut sich Mohamud.

Im Februar 2001 nahmen die ersten Somalis das abgelegene Lewiston in Augenschein. Dem Bürgerkrieg in ihrer Heimat entkommen, hat es sie zunächst nach Atlanta verschlagen, dorthin wurden sie verteilt nach einem Quotensystem, das jährlich 70.000 Asylbewerber aus aller Welt einwandern lässt. In Atlanta, weiß Mohamud, sei der Winter zwar angenehm mild gewesen, aber sie sahen sich großer Kriminalität ausgesetzt.

Um die acht Kinder nicht zwischen die Fronten von Drogenbanden geraten zu lassen, übersiedelte er mit seiner Familie in eine Region, die der Statistik nach zu den sichersten der USA zählt. Die Wahl fiel auf Lewiston. Die Winter sind eisig, dafür erwartet einen aber ein schläfriges Provinzmilieu, in dem nichts Außergewöhnliches geschieht, aber auch nichts Schlimmes. Damals flimmerte in den Kinos „Black Hawk Down“ über die Leinwand, ein Film, der dokumentierte, wie US-Soldaten 1993 in Mogadischu bei der Bekämpfung des Warlords Mohammad Farah Aidid in ein Desaster schlitterten. Wahrheitsgetreu wurde gezeigt, wie Aidids Kämpfer die nackten Leichen der Amerikaner durch die Straßen schleiften.

Einer der 18 Getöteten war in der Nähe von Lewiston beheimatet. Dann brachten am 11. September 2001 entführte Flugzeuge die New Yorker Zwillingstürme zum Einsturz. Ein paar Monate darauf, in Lewiston waren mittlerweile etwa 1.000 Somalis untergekommen, ging Laurier Raymond, der Bürgermeister, mit einem Brief an die Öffentlichkeit. Die Gemeinde habe ihre Grenze erreicht, sie könne keinen mehr integrieren. „Wir hatten Angst, dass uns das alles überfordern würde“, berichtet Phil Nadeau. „Es ging ja doch ziemlich schnell.“

Nadeau, der Vizechef der Stadtverwaltung, verantwortlich für den Bereich Flüchtlinge, begrüßt die Besucher in einem Büro, dessen Wand ein berühmtes Foto schmückt. Es zeigt zwei Boxer am Ende eines berühmten, wenn auch kurzen Kampfes. Der eine, Muhammad Ali, steht in Siegerpose über dem anderen. Der wiederum liegt hilflos am Boden, er musste bereits in der ersten Runde das k.o. hinnehmen. Der Boxkampf zwischen dem jungen Supertalent und Sonny Liston ist in die Sportgeschichte eingegangen. Nur ist sich kaum einer mehr bewusst, dass er in Lewiston stattfand, im dafür umgebauten Eishockeystadion einer High School. Der spannenden Veranstaltung wohnten am 25. Mai 1965 gerade mal 3.000 Zuschauer bei. „Der erste Muslim, der nach Lewiston kam“, bemerkt Phil Nadeau und deutet auf Ali.

Heute zählt man 6.000, fast alle sind Somalis. Nadeau, der 2002 den Mehr-schaffen-wir-nicht-Brief seines damaligen Bürgermeisters an die Lokalzeitung überbrachte, verteidigt die Notwendigkeit von Immigration. Maine habe von allen 50 Bundesstaaten die drittschlechteste Geburtenrate. Die Region ringe mit der drittältesten Bevölkerung, es werden mehr Sterbende als Neugeborene verzeichnet. „Jeder Unternehmer kennt diese Tabellen. Keiner wird bei dir investieren, wenn er nicht weiß, ob er in zehn, fünfzehn Jahren noch genügend Leute für seine Fabrik findet.“ Allein Zuwanderung aus dem Ausland sei zwar nicht das Allheilmittel, aber eine solche Zuwanderung sei zumindest ein Bestandteil jeder Lösung, meint Nadeau.

Dass es Vorbehalte gibt, will Nadeau gar nicht bestreiten. Er kennt die Gerüchte. In Lewiston werden beim Thema Flüchtlinge schnell die teuren Autos aufgezählt, die Somalis angeblich fahren, auf Kosten des Staats, wie es heißt. „Von dem, was wir an Unterstützung zahlen, kriegt man nicht mal ein halbes Auto“, berichtigt Nadeau. Die Finanzhilfe der US-Regierung für anerkannte Flüchtlinge läuft nur acht Monate.

Asylsuchende, die in Amerika angekommen sind, deren Flüchtlingsstatus aber noch geprüft wird, bekommen bis zur Klärung nicht einen Dollar aus Washington. Und Sozialhilfen sind mit strengen Auflagen verknüpft. Wer sie in Anspruch nimmt, muss Englischkurse absolvieren und auch unangenehme Jobs annehmen. Wer sich weigert, hat seinen Anspruch auf sämtliche Sozialleistungen verwirkt.

Der hagere Mann bringt in Erinnerung, welchen Aufruhr der Brief des alten Bürgermeisters seinerzeit ausgelöst hat. Einige Einwohner waren verunsichert und wollten Lewiston vor einer somalischen Invasion verteidigen. Zur Kundgebung der World Church of the Creator, einem im mittelwestlichen Illinois beheimateten Ableger des Ku-Klux-Klan, versammelten sich im Januar 2003 allerdings gerade einmal 30 Menschen, während nahezu 5.000 zu einer Gegendemonstration erschienen. „Da wussten wir, wir waren willkommen“, schlussfolgert Said Mohamud.




Quelle: Gebende Hände-Redaktion; nach einer Information von: „RP Online“, rp-online.de

Schlagwörter: Somalia, Flüchtlinge, Immigration, Migranten, Lewiston, Quote, Atlantikküste, Demographie, Kinder, Geburtenrate, Einwanderung, Integration, Asyl, Asylbewerber, Sozialleistungen, Flüchtlingsstatus, Maine, Bürgerkrieg, Flucht