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Somalia: Audienz mit Huhn

Meldung vom 22.04.2016

Auch in Somalia kann man den Fortschritt beobachten. Aber er lässt sich nicht immer nach westlichen Vorstellungen bemessen. In der traditionell nomadischen Clan-Gesellschaft spielen informelle Beziehungen eine weitaus wichtigere Rolle als moderne Ordnungen.

Mogadischu hat den Ruf der gefährlichsten Stadt der Welt. Aber selbst dort gibt es noch unterteilte Sicherheitszonen. Am sichersten ist es innerhalb der „Mogadiscio International Airport Zone“ – wegen all des großen militärischen Aufgebots dort. Aber „sicher“ bedeutet, dass man als Ausländer auch dort nur im gepanzerten Fahrzeug herumfährt. Verlässt man die Flughafen-Zone, wird einem dringend geraten, auch im Panzerfahrzeug zusätzlich noch eine schusssichere Weste anzulegen. Nicht einmal ein weißes Hemd sei erlaubt, weil das den Blick von Attentätern auf sich ziehen könnte.

Die heißeste Zone beginnt dann im Umkreis der „Villa Somalia“, dem Regierungssitz in einem schwanenweißen, italienischen Kolonialbau über dem Indischen Ozean. Vor zwei Jahren wäre sie einmal beinahe von Al-Schabaab-Milizen überrannt worden. Nirgends sind die Sicherheitsvorkehrungen und Kontrollen so streng wie in dieser Gegend. Man sagt, die Eskorte des Präsidenten bediene sich eines Störsenders gegen ferngezündete Sprengsätze, der jedoch bei der Durchfahrt auch den gesamten Mobilfunk in der Umgebung blockiere.

Angesichts einer solchen scharfen Überwachung sollte man davon ausgehen, dass innerhalb des Regierungssitzes alles in streng geordneten Bahnen verläuft. Weit gefehlt! Im Flur vor dem Büro des Premierministers stehen und sitzen unzählige Männer und Frauen. Manche schreien in ihre Handys und fuchteln wild herum, manche machen ein Nickerchen, manche gönnen sich einen Tee oder Kaffee, der Boden ist übersät mit Plastikbechern. Medienleute werden in den VIP-Warteraum geführt. Man spürt durchaus den Ansatz, etwas wie eine formale Atmosphäre zu schaffen: pompöse Kunstledersofas, orientalische Teppiche, ein Glastisch mit Plastikblumen, auf antik gestylte Holzschränke mit Vitrinen. Aber der Schrank verbarrikadiert ausgerechnet das Fenster, die Vitrinen sind ohne Inhalt, an der Wand hat irgendjemand ein riesiges ausrangiertes Fliegengitter abgestellt, das Bild des Präsidenten ist schief.

Einer der Wartenden gibt eine Anekdote zum Besten: Kürzlich habe eine Somalierin mit einem Huhn auf dem Schoss hier Platz genommen, um auf eine Audienz beim Präsidenten zu warten. Ihr Hühnerstall war zertrümmert und ausgeraubt worden. Als sie an der Reihe war, hielt sie dem Staatschef als Beweis das einzige überlebende Tier hin. Ein trockener Kommentar beendet die Geschichte: „Er half ihr; sie ist verwandt mit ihm.“

Irgendwann haben zwei wartende Frauen Hunger. Sie rekrutieren einen der herumlungernden Jungen im Flur und geben ihm etwas Geld. Eine Viertelstunde später erscheint er wieder mit Reis und Ziegenfleisch; die Frauen stürzen sich mit Heißhunger und ohne Besteck im VIP-Room auf das Essen. Es fällt auf, dass selbst hier, im Zentrum der Staatsmacht, offizielle Regeln unaufhörlich vom Informellen untergraben werden.

Das bemerkt man auch an der Sprechweise. „Die Somalier sind sehr direkt, haben es aber nicht gerne eindeutig“, beobachtet der Schweizer Botschafter für Somalia, Dominik Langenbacher. „Sie ziehen es vor, die Dinge offenzulassen.“ So kann man auch niemanden auf eine Aussage festnageln. Was auf der Ebene der öffentlichen Politik dahingestellt wird, hat oft wenig mit den tatsächlichen gesellschaftlichen Vorgängen zu tun, die von Clan-Zugehörigkeit, Vetternwirtschaft und Korruption durchdrungen sind. Wobei Bestechung eher als eine Art verwandtschaftliche Solidaritätsbekundung und höflicher Freundschaftsdienst definiert wird. Halbseidene Geschäfte lassen sich besser im Unbestimmten, in Halbdunkel und Chaos abwickeln.

Selbst Gespräche mit Geschäftsleuten vermitteln zuerst einen durchaus sachlichen Eindruck (wenn auch mit viel Wortgirlanden, Scherzen und Geschichtchen ausgeschmückt), aber versucht man im Nachhinein, die wesentlichen Punkte nochmals schriftlich zusammenzufassen, kann man keinen Gedanken fixieren. Ein Unternehmer mit Goldrandbrille erwähnt sein Hotel in Mogadischu, aber er möchte den Namen nicht preisgeben. Er spricht von Aufträgen der Regierung, aber sagt wenig später, er mache keine Geschäfte mit der Regierung. Er spricht perfekt Englisch, besteht aber dennoch darauf, sein Somali von einem Dolmetscher übersetzen zu lassen. Dann kann er im Zweifelsfall behaupten, seine Aussage sei falsch übersetzt worden.

Alles ist darauf konzentriert, „live“ abzulaufen, der Umgang der Somalis untereinander lebt vom direkten Kontakt, vom Moment, vom Atmosphärischen. Vielleicht kann man hier auch das Erbe einer nomadischen Gesellschaft nachverfolgen, der das Schriftliche und Fixierte bis heute nicht behagt. Dass ein großer Teil der Bevölkerung des Lesens und Schreibens nicht mächtig ist, zeigt sich auch an den Fassaden der Läden, wo die käuflichen Waren – Pulvermilch, Tee, Wassermelonen, Seife, Batterien – in mal kunstvollen, mal unbeholfenen Malereien beworben werden.

Dass gesprochene Worte nichts mit der Realität zu tun haben müssen, erkennt man auch an der Presse. Im März 2016 erschien ein Artikel über den angeblich sich rasant entwickelnden Tourismus, der bald zu einem führenden Wirtschaftszweig aufsteigen könnte. Unter anderem berief man sich auf die prähistorischen Felsmalereien in Laas Geel. Der Text machte darauf aufmerksam, dass allzu viele Touristen auch eine Gefahr für Kulturgüter darstellen könnten. Allerdings hat Somalia solche Probleme derzeit wohl kaum zu lösen: Keiner der umstehenden Somalier konnte sich erinnern, je einen Touristen im Land wahrgenommen zu haben.

Somalier sind ein humorvolles Volk. Den Humor benötigen sie offenbar als psychologische Überlebensstrategie unter der ständigen Lebensgefahr in dem Land. Aber er dient auch dazu, dem Eindeutigen auszuweichen und gute Miene zum bösen Spiel zu machen. „Ein Somalier fürchtet viele Dinge“, lautet ein Sprichwort in Mogadischu, „der Tod gehört nicht dazu.“ Eines der Dinge, die er vielleicht mehr scheut als den Tod, ist das klare Entweder-oder.

Gerne tragen Somalier eine Geschichte vor, von der sie schwören, sie sei kein Scherz, sondern sei genau so geschehen. Sie dient möglicherweise als Indiz dafür, dass man in Somalia sogar den Tod weglachen und austricksen will. Der Humor, der in ihr zum Tragen kommt, ist so schwarz wie die Holzkohle, die Somalia illegal einführt, aber auch so grün wie die Hoffnung und die überall konsumierte Krautdroge Kat, die – legal – importiert wird.

Die Geschichte lautet so: Ein Mann brach sich ein Bein, und zugleich war sein Bauch von einem Speer durchbohrt. Er schleifte sich drei Tage lang durch die Straßen, bis er in einem Krankenhaus in Mogadischu behandelt wurde. Der Arzt versorgte sogleich das Bein mit dem offenen Bruch, der wirklich schlecht aussah. Da verlangte der Schwerverletzte: „Kümmern Sie sich zuerst um den Speer im Bauch. Er schmerzt furchtbar, vor allem beim Lachen.“




Quelle: Gebende Hände-Redaktion; nach einer Information von: „Neue Zürcher Zeitung, NZZ Online“, nzz.ch

Schlagwörter: Somalia, Al-Schabaab, Gesellschaft, Regeln, Sicherheitsvorkehrungen, Audienz, Staat, Korruption, Vetternwirtschaft, Nepotismus, Nomaden, Clans, Clan-Zugehörigkeit, Mogadischu, Tourismus, Regierung