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Äthiopien: Ein Gebet für Kinder und Regen |
Meldung vom 02.06.2016
Um zu erfassen, was die verheerende Dürre in Äthiopien für die Menschen bedeutet, ist es hilfreich, sich einem Einzelschicksal zuzuwenden. Enanit Ayele ist eine junge alleinstehende Mutter in Äthiopien, die drei Kinder und die blinde Großmutter versorgen muss. Ihr täglicher Überlebenskampf ist hart.
Enanit Ayele (28) hockt mit 20 Männern im Halbdunkel eines Raums. Die Menschen, die sich hier versammelt haben, kommen alle aus demselben Dorf. Sorba wird es genannt. Sie sind nicht in das Städtchen Lalibela gekommen, um den berühmten Felsenkirchen einen touristischen Besuch abzustatten. Sie sind hier, um ihre Ration Weizen und Öl in Empfang zu nehmen. Schon gestern früh sind sie die fünf Stunden durch die trockene Landschaft nach Lalibela gewandert. Bis jetzt haben sie noch nichts erhalten. Zu groß war der Andrang vor den Zelten, in denen die Regierung Lebensmittel ausgibt. Sie haben in der Stadt die Nacht verbracht und hoffen, dass sie heute etwas abbekommen.
Enanit Ayele hat nie eine Schule besucht. Klimawandel ist für sie ein Fremdwort. Sie hat noch nie etwas vom Wetterphänomen El Nino erfahren. Sie weiß nicht einmal genau ihr Alter. Sie weiß nur, dass sie, ihre drei Kinder und ihre blinde Mutter auch morgen Nahrung benötigen. Darum befindet sie sich hier. In ihrem Dorf leidet jedermann Mangel, weil der Regen ausblieb, die Bauern deshalb einen Ernteausfall nach dem nächsten hatten. Wer Vorräte besaß, hat sie längst aufgezehrt. In anderen Teilen Äthiopiens haben die Menschen wegen der Dürre ihr gesamtes Vieh verloren. Statt acht Millionen sind zurzeit rund 20 Millionen Menschen von Hilfsgüterlieferungen abhängig. Das bedeutet jeder fünfte Äthiopier.
Seit Anfang des Jahres holt sich Enanit Ayele Nahrungsmittelhilfe. Die Hilfe wird nicht umsonst verteilt. Für zehn Kilo Weizen und eine Flasche voll Öl muss sie gemeinnützige Arbeit an fünf Tagen pro Monat leisten. Sie packt mit dabei an, Wege auszubauen, Bäume zu pflanzen. „Productive safety net“ nennt sich das Programm. Die äthiopische Regierung und verschiedene Hilfsorganisationen haben es ins Leben gerufen. Wer jung und stark ist, soll für seine Nahrungsmittel etwas tun. Das Programm bewährt sich in dieser Region seit mehr als zehn Jahren. Weil Hunger hier zum Normalzustand geworden ist. Weil die Menschen hier auch schon in den vorangehenden Jahren nicht über die Runden kamen. „Safety net“ ist das einzige englische Wort, das Enanit kennt und aussprechen kann. Das Wort wirkt fremd in der weichen Melodie der amharischen Sprache.
Am Nachmittag werden die Bewohner von Sorba begünstigt. 50-Kilo-Säcke voll Weizen und Kanister gefüllt mit Öl schleppen sie aus dem umzäunten Gelände. Auf den Säcken und den Kanistern kann man lesen „US AID – From the American People“. Das Öl ist versehen mit Vitamin A und D. Vitamin-A-Mangel schadet den Augen, Vitamin-D-Mangel kann Knochenschwund bewirken. Noch auf der Straße verteilen sie den Weizen und jeder gießt seinen Anteil Öl in eine leere PET-Flasche.
Das Heim von Enanit ist eine runde Hütte am Rand des Dorfes. Die Wände außen bestehen aus Ästen und innen ist sie aus Lehm und Stroh. Aus Lehm sind drinnen auch Regale und Nischen geformt, alles unverrückbar. Darin werden Zwiebeln, ein Tontopf mit Öl, kleine Kaffeetassen, ein Säckchen grüne Kaffeebohnen gelagert. Alles ist überschaubar, alles ist an seinem Platz. Neben dem Regal sieht man weitere große Lehmgefäße. Darin hütet die Familie ihre Nahrungsmittel – Weizen, Mehl, Chili. Ein Tonbehälter ist gefüllt mit Wasser.
Enanit ist verschwitzt vom langen Weg in das Dorf. Sie nimmt eine Handvoll Wasser aus dem Tongefäß, benetzt damit ihr Gesicht. Das Wasser tropft zwischen den Fingern auf den Boden und versickert sofort. Durch das Dach aus Ästen fällt nur wenig Tageslicht ins Haus. Die Küche mit der Feuerstelle wurde in einer separaten, kleineren Hütte untergebracht.
Verheiratet wurde Enanit bereits als Kind. Mit ungefähr 12 Jahren gebar sie ihr erstes Kind. Etwa fünf Jahre später brachte sie ihr zweites Kind, eine Tochter, zur Welt. Kurz darauf verließ der Mann die Familie, weil herauskam, dass er schon verheiratet war, schon eine andere Familie hatte. Enanit ist seither auf sich gestellt. Mit den zwei Kindern siedelte sie in das Haus ihrer Mutter um.
Um Geld zu verdienen, sucht sie Holz, zerkleinert es, schnürt es zu großen Bündeln und verkauft diese unten im Dorf an der Straße. Von der Milch ihrer drei Kühe fabriziert sie Butter, die sie samstags auf dem Markt veräußert. Sie nennt eine Mutterkuh und zwei Kälber und Hühner ihr eigen. Sobald die Küken groß genug sind, verkauft sie sie. Wann immer es etwas zu tun gibt, hilft Enanit den Bauern im Dorf. Sie schleppt Steine vom Acker, arbeitet mit bei der Aussaat und Ernte.
Doch diese Arbeit ist inzwischen rar geworden. Wegen der Dürre konnten die Bauern nichts aussäen. Früher konnte man mit zwei Regenzeiten und zwei Erntezeiten rechnen. Nun ist der Regen nicht mehr kalkulierbar. Manchmal kommt er, manchmal bleibt er aus. Die weißen Baumwolltücher, mit denen sich Männer und Frauen umwickeln, sind oft braun vor Schmutz. Die Menschen strömen einen stechenden Geruch aus. Auch Enanit. Wasser wird zum Trinken gebraucht. Waschen ist Luxus.
An den dürren Beinen sehen die Knie der Kinder riesig aus. Auch Enanits blinde Mutter ist extrem mager. Sie hockt vor der Hütte, ihre Augen sind zu, auf den Lidern haben sich Fliegen niedergelassen. Viele Menschen in dieser trockenen Gegend sind blind oder leiden an Augenkrankheiten, weil sie kaum Wasser haben, um ihre Gesichter zu reinigen, und weil die Fliegen ihre Augen immer wieder von neuem infizieren.
Manchmal sitzt die Großmutter vor dem Haus, dann wieder im Haus. Enanit greift ihr unter die Arme, wenn sie den Platz wechseln will, platziert das Ziegenfell so, dass sie bequemer sitzen kann. Radio oder Fernseher gibt es nicht. Um die Mittagszeit gibt die Tochter der Mutter einen Fladen Injera. Die alte Frau reißt kleine Brocken ab und schiebt sie sich in den Mund.
Injera ist das Hauptgericht der Menschen in Äthiopien. Ein säuerlicher Teigfladen, den die Frauen alle paar Tage herstellen. Injera wird aus Tef zubereitet, einer einheimischen Hirseart. Enanit knetet den Teig in einer leeren „US AID“-Büchse. Weil Tef zurzeit nicht preiswert ist, vermischt sie das Mehl mit dem Weizen der Regierung.
Auf einem Injera-Fladen werden Saucen, Gemüse oder Fleisch in kleinen Häufchen aufgetragen. Die Menschen essen von Hand aus einer Platte. Enanit und ihre Kinder ernähren sich jeden Tag von Injera. Manchmal wird eine Paste aus Chili, Salz und Öl dazu gereicht. Oder es kommt eine flüssige Sauce aus Kichererbsenmehl dazu. Meist essen sie aber nur Injera. Erst auf Nachfrage gibt Enanit zu, dass sie manchmal Hunger leiden. Sie sagt das leise, fast als schäme sie sich darüber.
Wer Durst hat, darf zum Lehmtopf gehen und mit einem Becher etwas Wasser daraus entnehmen. Das Wasser stammt vom Brunnen. Der Brunnen befindet sich zwei Stunden vom Dorf entfernt. Alle drei Tage zieht Enanit los, um zwei 25-Liter-Kanister zu holen. Weil sie nicht beide Kanister auf einmal schultern kann, lässt sie einen Kanister beim Wachmann am Brunnen stehen. Sie kehrt am Nachmittag zurück und schleppt den zweiten Kanister nach Hause.
Um sich und die Kleider zu waschen, nimmt Enanit den Fußmarsch zum Fluss auf sich, der liegt etwa 40 Minuten entfernt. Sie selbst hat drei Röcke. Ihre Tochter zwei. Ihr Jüngster besitzt nur eine blaue Hose und einen blauen Pullover, die Hosen sind schon an vielen Stellen ausgebessert. Wenn Enanit seine Kleider wäscht, streift sie ihm ein altes T-Shirt über. Es ist so klein, dass es am Bauchnabel endet. Es muss genügen, bis seine Kleider wieder trocken sind.
Am späten Nachmittag braut sich ein Gewitter zusammen. Zuerst wütet der Wind, peitscht die trockene Erde durch die Luft. Dann folgen Donner und Blitze. Die 10-jährige Genet ist noch unten am Fluss, um Wasser herbeizubringen. Das Flusswasser ist verunreinigt. Aber zurzeit müssen die Menschen auch auf dieses Wasser zurückgreifen. Wolken haben den Himmel verdüstert. Die Familie hat sich drinnen niedergelassen, keiner wechselt ein Wort. Doch statt Regen gibt es Hagel – große Körner. Der kleinste, Achenafi, springt auf, läuft ins Freie, greift nach den Hagelkörnern, steckt sie sich in den Mund, bringt sie seiner Mutter.
Erst nach dem Hagel stellt sich der lang erwünschte Regen ein – allerdings zu heftig. Nach kurzer Zeit tropft der Regen durch das undichte Dach, auf die Strohmatten. Enanit birgt die Hände im Schoss. Achenafi hat sich dicht neben ihr niedergelassen. Hört dem Rauschen des Regens zu. Wartet. Die Tür wird aufgestoßen, Genet kommt herein. Sie atmet schwer, der Rock klebt an ihren Beinen. Sie setzt den gelben Kanister, der voll Wasser ist, auf dem Boden ab. In der Küche entledigt sie sich des nassen Rocks, hüllt sich in das Tuch der Großmutter und rückt ganz nah ans Feuer.
Bald hört der Regen auf, die Dunkelheit fällt ganz plötzlich ein. Über den Luxus einer Glühbirne verfügen nur wenige Häuser. Morgens sind alle Dorfbewohner noch in ihre Baumwolltücher gehüllt. Der Himmel ist wieder wolkenlos. Die Hände der Kinder sind noch kühl. Das öffentliche Plumpsklo wurde gerade fertiggestellt, und vor der Mühle haben sich schon Männer mit ihren Eseln in eine Schlange gestellt. Vor einem Haus sammeln zwei Kinder Regenwasser aus einer braunen Lache in einen Kanister. Eine Gruppe Frauen verlässt gerade die Kirche. Auf jeder Stirn kann man ein Kreuz aus Asche erkennen.
Wenn Enanit betet, bittet sie Gott, dass ihre Söhne einmal auf eigenen Beinen stehen können und dass ihre Tochter einmal einen guten Mann heiratet. Und sie bittet um Regen. Mehr Regen. Und keinen Hagel.
Quelle: Gebende Hände-Redaktion; nach einer Information von: „Aargauer Zeitung“, aargauerzeitung.ch
Schlagwörter: Äthiopien, Dürre, Hunger, Hungerkrise, El Nino, Klima, Klimawandel, Regen, Hagel, Nahrungsmittel, Nahrungsmittelhilfe, Productive safety net, US Aid, Lalibela, Kirche, Glaube, Religion, Armut, Elend, Frauen, Kinder, Ernte, Landwirtschaft, Trockenheit, Ernteausfall, Weizen, Tef, Hirse, Injera
Enanit Ayele (28) hockt mit 20 Männern im Halbdunkel eines Raums. Die Menschen, die sich hier versammelt haben, kommen alle aus demselben Dorf. Sorba wird es genannt. Sie sind nicht in das Städtchen Lalibela gekommen, um den berühmten Felsenkirchen einen touristischen Besuch abzustatten. Sie sind hier, um ihre Ration Weizen und Öl in Empfang zu nehmen. Schon gestern früh sind sie die fünf Stunden durch die trockene Landschaft nach Lalibela gewandert. Bis jetzt haben sie noch nichts erhalten. Zu groß war der Andrang vor den Zelten, in denen die Regierung Lebensmittel ausgibt. Sie haben in der Stadt die Nacht verbracht und hoffen, dass sie heute etwas abbekommen.
Enanit Ayele hat nie eine Schule besucht. Klimawandel ist für sie ein Fremdwort. Sie hat noch nie etwas vom Wetterphänomen El Nino erfahren. Sie weiß nicht einmal genau ihr Alter. Sie weiß nur, dass sie, ihre drei Kinder und ihre blinde Mutter auch morgen Nahrung benötigen. Darum befindet sie sich hier. In ihrem Dorf leidet jedermann Mangel, weil der Regen ausblieb, die Bauern deshalb einen Ernteausfall nach dem nächsten hatten. Wer Vorräte besaß, hat sie längst aufgezehrt. In anderen Teilen Äthiopiens haben die Menschen wegen der Dürre ihr gesamtes Vieh verloren. Statt acht Millionen sind zurzeit rund 20 Millionen Menschen von Hilfsgüterlieferungen abhängig. Das bedeutet jeder fünfte Äthiopier.
Seit Anfang des Jahres holt sich Enanit Ayele Nahrungsmittelhilfe. Die Hilfe wird nicht umsonst verteilt. Für zehn Kilo Weizen und eine Flasche voll Öl muss sie gemeinnützige Arbeit an fünf Tagen pro Monat leisten. Sie packt mit dabei an, Wege auszubauen, Bäume zu pflanzen. „Productive safety net“ nennt sich das Programm. Die äthiopische Regierung und verschiedene Hilfsorganisationen haben es ins Leben gerufen. Wer jung und stark ist, soll für seine Nahrungsmittel etwas tun. Das Programm bewährt sich in dieser Region seit mehr als zehn Jahren. Weil Hunger hier zum Normalzustand geworden ist. Weil die Menschen hier auch schon in den vorangehenden Jahren nicht über die Runden kamen. „Safety net“ ist das einzige englische Wort, das Enanit kennt und aussprechen kann. Das Wort wirkt fremd in der weichen Melodie der amharischen Sprache.
Am Nachmittag werden die Bewohner von Sorba begünstigt. 50-Kilo-Säcke voll Weizen und Kanister gefüllt mit Öl schleppen sie aus dem umzäunten Gelände. Auf den Säcken und den Kanistern kann man lesen „US AID – From the American People“. Das Öl ist versehen mit Vitamin A und D. Vitamin-A-Mangel schadet den Augen, Vitamin-D-Mangel kann Knochenschwund bewirken. Noch auf der Straße verteilen sie den Weizen und jeder gießt seinen Anteil Öl in eine leere PET-Flasche.
Das Heim von Enanit ist eine runde Hütte am Rand des Dorfes. Die Wände außen bestehen aus Ästen und innen ist sie aus Lehm und Stroh. Aus Lehm sind drinnen auch Regale und Nischen geformt, alles unverrückbar. Darin werden Zwiebeln, ein Tontopf mit Öl, kleine Kaffeetassen, ein Säckchen grüne Kaffeebohnen gelagert. Alles ist überschaubar, alles ist an seinem Platz. Neben dem Regal sieht man weitere große Lehmgefäße. Darin hütet die Familie ihre Nahrungsmittel – Weizen, Mehl, Chili. Ein Tonbehälter ist gefüllt mit Wasser.
Enanit ist verschwitzt vom langen Weg in das Dorf. Sie nimmt eine Handvoll Wasser aus dem Tongefäß, benetzt damit ihr Gesicht. Das Wasser tropft zwischen den Fingern auf den Boden und versickert sofort. Durch das Dach aus Ästen fällt nur wenig Tageslicht ins Haus. Die Küche mit der Feuerstelle wurde in einer separaten, kleineren Hütte untergebracht.
Verheiratet wurde Enanit bereits als Kind. Mit ungefähr 12 Jahren gebar sie ihr erstes Kind. Etwa fünf Jahre später brachte sie ihr zweites Kind, eine Tochter, zur Welt. Kurz darauf verließ der Mann die Familie, weil herauskam, dass er schon verheiratet war, schon eine andere Familie hatte. Enanit ist seither auf sich gestellt. Mit den zwei Kindern siedelte sie in das Haus ihrer Mutter um.
Um Geld zu verdienen, sucht sie Holz, zerkleinert es, schnürt es zu großen Bündeln und verkauft diese unten im Dorf an der Straße. Von der Milch ihrer drei Kühe fabriziert sie Butter, die sie samstags auf dem Markt veräußert. Sie nennt eine Mutterkuh und zwei Kälber und Hühner ihr eigen. Sobald die Küken groß genug sind, verkauft sie sie. Wann immer es etwas zu tun gibt, hilft Enanit den Bauern im Dorf. Sie schleppt Steine vom Acker, arbeitet mit bei der Aussaat und Ernte.
Doch diese Arbeit ist inzwischen rar geworden. Wegen der Dürre konnten die Bauern nichts aussäen. Früher konnte man mit zwei Regenzeiten und zwei Erntezeiten rechnen. Nun ist der Regen nicht mehr kalkulierbar. Manchmal kommt er, manchmal bleibt er aus. Die weißen Baumwolltücher, mit denen sich Männer und Frauen umwickeln, sind oft braun vor Schmutz. Die Menschen strömen einen stechenden Geruch aus. Auch Enanit. Wasser wird zum Trinken gebraucht. Waschen ist Luxus.
An den dürren Beinen sehen die Knie der Kinder riesig aus. Auch Enanits blinde Mutter ist extrem mager. Sie hockt vor der Hütte, ihre Augen sind zu, auf den Lidern haben sich Fliegen niedergelassen. Viele Menschen in dieser trockenen Gegend sind blind oder leiden an Augenkrankheiten, weil sie kaum Wasser haben, um ihre Gesichter zu reinigen, und weil die Fliegen ihre Augen immer wieder von neuem infizieren.
Manchmal sitzt die Großmutter vor dem Haus, dann wieder im Haus. Enanit greift ihr unter die Arme, wenn sie den Platz wechseln will, platziert das Ziegenfell so, dass sie bequemer sitzen kann. Radio oder Fernseher gibt es nicht. Um die Mittagszeit gibt die Tochter der Mutter einen Fladen Injera. Die alte Frau reißt kleine Brocken ab und schiebt sie sich in den Mund.
Injera ist das Hauptgericht der Menschen in Äthiopien. Ein säuerlicher Teigfladen, den die Frauen alle paar Tage herstellen. Injera wird aus Tef zubereitet, einer einheimischen Hirseart. Enanit knetet den Teig in einer leeren „US AID“-Büchse. Weil Tef zurzeit nicht preiswert ist, vermischt sie das Mehl mit dem Weizen der Regierung.
Auf einem Injera-Fladen werden Saucen, Gemüse oder Fleisch in kleinen Häufchen aufgetragen. Die Menschen essen von Hand aus einer Platte. Enanit und ihre Kinder ernähren sich jeden Tag von Injera. Manchmal wird eine Paste aus Chili, Salz und Öl dazu gereicht. Oder es kommt eine flüssige Sauce aus Kichererbsenmehl dazu. Meist essen sie aber nur Injera. Erst auf Nachfrage gibt Enanit zu, dass sie manchmal Hunger leiden. Sie sagt das leise, fast als schäme sie sich darüber.
Wer Durst hat, darf zum Lehmtopf gehen und mit einem Becher etwas Wasser daraus entnehmen. Das Wasser stammt vom Brunnen. Der Brunnen befindet sich zwei Stunden vom Dorf entfernt. Alle drei Tage zieht Enanit los, um zwei 25-Liter-Kanister zu holen. Weil sie nicht beide Kanister auf einmal schultern kann, lässt sie einen Kanister beim Wachmann am Brunnen stehen. Sie kehrt am Nachmittag zurück und schleppt den zweiten Kanister nach Hause.
Um sich und die Kleider zu waschen, nimmt Enanit den Fußmarsch zum Fluss auf sich, der liegt etwa 40 Minuten entfernt. Sie selbst hat drei Röcke. Ihre Tochter zwei. Ihr Jüngster besitzt nur eine blaue Hose und einen blauen Pullover, die Hosen sind schon an vielen Stellen ausgebessert. Wenn Enanit seine Kleider wäscht, streift sie ihm ein altes T-Shirt über. Es ist so klein, dass es am Bauchnabel endet. Es muss genügen, bis seine Kleider wieder trocken sind.
Am späten Nachmittag braut sich ein Gewitter zusammen. Zuerst wütet der Wind, peitscht die trockene Erde durch die Luft. Dann folgen Donner und Blitze. Die 10-jährige Genet ist noch unten am Fluss, um Wasser herbeizubringen. Das Flusswasser ist verunreinigt. Aber zurzeit müssen die Menschen auch auf dieses Wasser zurückgreifen. Wolken haben den Himmel verdüstert. Die Familie hat sich drinnen niedergelassen, keiner wechselt ein Wort. Doch statt Regen gibt es Hagel – große Körner. Der kleinste, Achenafi, springt auf, läuft ins Freie, greift nach den Hagelkörnern, steckt sie sich in den Mund, bringt sie seiner Mutter.
Erst nach dem Hagel stellt sich der lang erwünschte Regen ein – allerdings zu heftig. Nach kurzer Zeit tropft der Regen durch das undichte Dach, auf die Strohmatten. Enanit birgt die Hände im Schoss. Achenafi hat sich dicht neben ihr niedergelassen. Hört dem Rauschen des Regens zu. Wartet. Die Tür wird aufgestoßen, Genet kommt herein. Sie atmet schwer, der Rock klebt an ihren Beinen. Sie setzt den gelben Kanister, der voll Wasser ist, auf dem Boden ab. In der Küche entledigt sie sich des nassen Rocks, hüllt sich in das Tuch der Großmutter und rückt ganz nah ans Feuer.
Bald hört der Regen auf, die Dunkelheit fällt ganz plötzlich ein. Über den Luxus einer Glühbirne verfügen nur wenige Häuser. Morgens sind alle Dorfbewohner noch in ihre Baumwolltücher gehüllt. Der Himmel ist wieder wolkenlos. Die Hände der Kinder sind noch kühl. Das öffentliche Plumpsklo wurde gerade fertiggestellt, und vor der Mühle haben sich schon Männer mit ihren Eseln in eine Schlange gestellt. Vor einem Haus sammeln zwei Kinder Regenwasser aus einer braunen Lache in einen Kanister. Eine Gruppe Frauen verlässt gerade die Kirche. Auf jeder Stirn kann man ein Kreuz aus Asche erkennen.
Wenn Enanit betet, bittet sie Gott, dass ihre Söhne einmal auf eigenen Beinen stehen können und dass ihre Tochter einmal einen guten Mann heiratet. Und sie bittet um Regen. Mehr Regen. Und keinen Hagel.
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Quelle: Gebende Hände-Redaktion; nach einer Information von: „Aargauer Zeitung“, aargauerzeitung.ch
Schlagwörter: Äthiopien, Dürre, Hunger, Hungerkrise, El Nino, Klima, Klimawandel, Regen, Hagel, Nahrungsmittel, Nahrungsmittelhilfe, Productive safety net, US Aid, Lalibela, Kirche, Glaube, Religion, Armut, Elend, Frauen, Kinder, Ernte, Landwirtschaft, Trockenheit, Ernteausfall, Weizen, Tef, Hirse, Injera