Afghanistan: Morddrohungen an Schulmädchen

Meldung vom 28.05.2009

Nach Morddrohungen der Taliban haben mindestens zehn Mädchenschulen rund um die afghanische Region Kunduz ihren Unterricht eingestellt. Um zu einer der Bildungsstätten zu gelangen, muss man ein dunkles Reich durchqueren, in dem die Islamisten ganz offen schalten und walten – und das, obwohl das Feldlager der Bundeswehr nur eine Stunde entfernt liegt.

Wenn der stellvertretende Schulleiter der Aqtasch High School von der Regierung redet, hat er weder die Zentralregierung Hamid Karzais in Kabul noch die Provinzverwaltung von Kunduz im Sinn. „Die Taliban sind unsere Regierung“, meint Bashir, „sie haben unsere Region übernommen, ihre Kommandeure geben hier die Befehle.“ Bashir befindet sich in einem verstaubten Klassenraum im Erdgeschoss seiner modernen Schule. Nur eine halbe Autostunde entfernt liegt die Region Kunduz.

Noch vor einem Monat, erklärt der bärtige Mann, saßen hier in drei Schichten pro Tag rund 400 Mädchen in den Bänken und lernten lesen, schreiben und rechnen. Zahlenreihen und Formeln an der Tafel zeugen von dieser Zeit. Nun sind die Klassenräume der Mädchen menschenleer. Bashir macht einen ratlosen Eindruck. „Die Eltern in Aqtasch“, erklärt er, „trauen sich nach Todesdrohungen der Taliban nicht mehr, ihre Mädchen zu uns zu schicken.“

Bashir wirkt eingeschüchtert. Unter seinen Lehrern gebe es einige Informanten der Taliban. Dass Reporter sich mit ihm unterhalten, meint er, würde den bärtigen Steinzeitkämpfern sicher gar nicht gefallen. „Gehen sie lieber schnell, wenn sie lebend wieder aus Aqtasch heraus kommen wollen“, warnt er unterdrückt. Seine Befürchtung ist nicht übertrieben. Keine halbe Stunde nach Ankunft in Aqtasch, etwa 15 Kilometer nordöstlich von Kunduz-Stadt und nur fünf Minuten von der Hauptstraße gen Norden entfernt, haben sich vor dem blauen Eingangsbogen der Schule gut ein Dutzend Taliban mit AK-47-Sturmgewehren um die Schulter aufgestellt. „Was wollt ihr hier“, schreit einer der Kämpfer, „das hier ist unsere Region, hier ist das Islamische Emirat von Nordafghanistan.“

Die Reise zur Schule von Aqtasch verläuft mitten durch die Region rund um Kunduz-Stadt, die weitestgehend von den Taliban kontrolliert wird. Es dauert eine Weile, bis uns die Kämpfer passieren lassen. Der Weg zurück aus Aqtasch legt dar, wie die Lage nur rund 15 Kilometer vom deutschen Feldlager in Kunduz entfernt aussieht. Überall an den Straßen haben Posten der Taliban Stellung bezogen. Sie halten die Autos an, drohen offen mit ihren Waffen und demonstrieren ihre Macht.

Mindestens zehn Mädchenabteilungen von Schulen rund um Kunduz wurden in den vergangenen drei Wochen nach Drohungen der Taliban geschlossen, da die Kinder nicht mehr zur Schule erschienen. Die Schließungswelle betrifft keineswegs nur die als Taliban-Hochburg bekannte Region Charreh Darreh im Südwesten von Kunduz. Auch in drei weiteren Bezirken wurden Schulen terrorisiert, Eltern bedroht, der Unterricht schließlich eingestellt.

Die Situation führt vor Augen, wie die Taliban in der nächsten Umgebung des Bundeswehrcamps in Kunduz ungehindert mehr und mehr die Kontrolle ausüben. Weder Bundeswehr noch die lokale Polizei können den Islamisten Einhalt gebieten.

Ähnlich wie im Süden Afghanistans, wo die Säureanschläge auf Schulmädchen in den vergangenen Monaten für Betroffenheit in den westlichen Medien sorgten, setzen die Taliban die Drohungen gegen die Mädchenschulen auch deshalb gezielt für ihre Propaganda ein. Westliche Truppen, so ihre Botschaft, kommen gegen die Krieger nicht an.

Die Taktik der Taliban ist völlig unspektakulär. Sogenannte Night Letters“, kritzelig beschriebene Papiere, werden nächtlich an die Türen der Schulen angebracht. In den Drohbriefen an die Schule in Aqtasch steht: „Von heute an dürfen Mädchen nicht mehr zur Schule kommen“. Unterschieben wurde mit dem Logo des „Islamischen Emirats von Afghanistan“. Ein anderer Drohbrief bildet ein Schulmädchen am Galgen ab. „Wir haben euch gewarnt“, heißt es da, „wenn wir nun Schulmädchen töten, dürft ihr euch nicht wundern.“

Durch die Drohungen in Aufruhr versetzt, hat Innenminister Hanif Atmar mittlerweile seinen Polizeichef in Kunduz telefonisch aus Kabul ermahnt. Die Schulschließungen stellten eine „Schande für Afghanistan“ dar. Es müsse etwas unternommen werden. Polizeichef Abdul Racak aber weiß ebenfalls keinen Rat. Erst vergangene Woche versuchte er, eine Patrouille nach Aqtasch auszusenden. Kaum von der Hauptstraße abgebogen, gerieten sie unter Beschuss. Zwei Polizisten wurden bei der Taliban-Attacke getötet.

Auch im deutschen Bundeswehr-Camp hinterlassen die täglichen Meldungen über Schulschließungen eine Mischung aus Betroffenheit und Hilflosigkeit. So gefährlich ist die Sicherheitslage momentan, dass sich weder Militär noch zivile Helfer ein eigenes Bild vor Ort machen können. Helfer und Soldaten müssen allerdings auch zugeben, dass sie gegen die Drohungen der Taliban nicht viel ausrichten könnten. 650 Schulen befinden sich rund um Kunduz. Das Einsatzgebiet der Deutschen hat einen Umfang von der Größe Hessens. Mit dem deutschen Kontingent von 667 Soldaten ist es unmöglich, ein solches Gebiet abzusichern und zu kontrollieren, so die nüchterne Analyse.


Quelle: Gebende Hände-Redaktion; nach einer Information von: „Spiegel Online“, spiegel.de