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Afghanistan: Trost auf dem alten Vogelmarkt in Kabul

Meldung vom 27.07.2016

Schüsse, Detonationen, Sirenengeheul – das ist inzwischen die fast alltägliche Geräuschkulisse in Kabul. Erst vor wenigen Tagen jagten sich zwei Selbstmordattentäter inmitten einer friedlichen Demonstration in die Luft. Mehr als 80 Tote waren die Folge. Doch man wird es kaum glauben – es gibt einen Stadtteil in Kabul, wo man, statt Maschinengewehrsalven zu hören, in eine andere friedliche Welt voller Vogelgezwitscher eintauchen kann. Der alte Vogelmarkt in Kabul versetzt einen zurück in ein anderes, friedliches Jahrhundert.

Wer über den alten Vogelmarkt von Kabul schlendert, kann viel über kämpfende Wachteln und das afghanische Herz lernen. Hier gerät der ewige Krieg in den Hintergrund – wenigstens für ein paar Stunden. In jeder Straße zwitschert, gurrt und gackert es. Aus den umherfliegenden Wortfetzen in der überfüllten engen Gasse kann man schließen, dass Fachgespräche über Krallen und Schnäbel geführt werden. Da wird über die Dichte der Federkleider und um stimmliche Ausdauer verhandelt. Das alles im Herzen von Kabul. Wir versuchen herauszufinden, ob diese Wachteln hier Männchen oder Weibchen sind“, sagt ein alter Mann mit wettergegerbtem Gesicht, der mit seinem Freund einen geflochtenen Wachtelkäfig beäugt.

Der alte Vogelmarkt ist eine friedliche Oase in einer vom Terror gezeichneten Stadt, in der mörderische Anschläge zum Alltag gehören und Furcht herrscht; in der sich die Eliten und Ausländer hinter hohen Sprengschutz-Mauern verschanzen. Um den Explosionen und Entführungen zu entgehen. Sie sind abgeschnitten vom Alltag draußen. Doch hier, in den tirilierenden Gassen des Vogelmarktes, ist fast alles so wie früher. Wie vor dem bald 40-jährigen Krieg, als sich tatsächlich eine Hippie-Bewegung auf der Suche nach einem besseren, friedlicheren Leben auf den Weg nach Kabul machte.

„Wir mögen Wachteln sehr“, erklären die beiden alten Männer. „Sie wärmen uns. Sie sind so weich, und sie singen so schön.“ Die meisten der winzigen Behausungen und windschiefen Verkaufsbaracken auf dem alten Vogelmarkt in Kabul bestehen aus Lehm. Die Gebäude sind ausgebleicht und abgewohnt. Keiner hier kann Auskunft geben, wie alt der Markt wirklich ist. Alle sagen: „So alt wie unser Leben!“

Kaka Rahim ist um die 70 Jahre alt. Er lebt von dem Verkauf von Wachteln. Singende Wachteln und kämpfende Wachteln. „Wir Afghanen sind ein armes Volk. Wir stehen unter Druck. Vögel sind ein einfacher Weg, um für Entspannung zu sorgen. Ein Vogellied beruhigt die Seele ...“, erklärt Kaka Rahim und gießt grünen Tee ein. Aber warum nur lassen die Afghanen inmitten von Krieg und Terror auch noch ihre Wachteln kämpfen? Kaka Rahim denkt nach und glättet bedächtig seinen weißen Bart.

„Vogelkämpfe sind eine alte, afghanische Tradition. Viele hier sind damit aufgewachsen und kennen nichts anderes. Sie entfliehen dem Alltag, denken an nichts Böses und vergessen den Krieg“, weiß der Wachtel-Verkäufer. Einer seiner Kunden, der eine kleine Wachtel in der Hand hält, bestätigt das Gesagte mit eifrigem Kopfnicken. Der Kopf des Vogels hat die Größe seines Daumennagels.

„Wenn ich den Vogel nicht in der Hand halte, wird er nie kämpfen, sondern nur singen“, teilt der Kunde fachmännisch mit. Und fügt lachend hinzu: „Ich mag alle Kämpfe. Hundekämpfe, Hahnenkämpfe, Rebhuhnkämpfe. Aber Krieg mag ich nicht.“ Er hält sich viele Stunden auf dem Vogelmarkt auf, um mit seinen Freunden zu fachsimpeln.

Für eine richtig starke Kampfwachtel muss man bei Kaka Rahim nach eigenen Angaben bis zu 1.000 Euro entrichten. Übertrieben? Die Summe erscheint astronomisch hoch für einen winzigen Vogel in einem von Armut gebeutelten Land. Doch keiner berichtigt den Verkäufer. Preisgünstiger geht es am Stand nebenan zu. Hier bietet Samarkhand junge Kampfhähne an.

„Wenn du gute Kämpfer willst, dann musst du den Hähnen besonderes Futter geben. Eierschalen, zerhackte Mandeln, Saatgut, auch Trockenfrüchte“, erläutert er nachdrücklich und greift in einen Jutesack, um einen jungen Gockel mit langen Beinen herauszuziehen. „Gutes Kampf-Material“, meinen die Umstehenden anerkennend. In der Kampfsaison jetzt im Sommer kann man für so einen Hahn mindestens 70 Euro verlangen.

Aber das Vogel-Geld sei durch geschicktes Wetten schnell wieder eingenommen, beteuern die Männer rund um Samarkhand einstimmig. Mit Vogelkämpfen kann man in Afghanistan geschäftlich groß rauskommen. Es ist absolut krisensicher. Auch oder gerade mitten in Kämpfen und Unsicherheit. Frauen verirren sich nie in den alten Vogelmarkt in Kabul. Er ist eine frauenfreie Zone.

Die meisten Männer hier „suchen aber Musik – für ihr Haus und für ihr Herz“, eröffnet Farhad Nuri mit dem Spitznamen Kanari. Nuri hegt eine Passion für den Gesang der Kanarienvögel. „Wenn ich ein Problem habe und die Vögel singen, wird das Problem kleiner. Die besten Kanarienvögel mit den schönsten Stimmen kommen aus Belgien. Sie heißen belgische Wasserschläger“, meint Nuri.

Ausländische Vögel, auch aus Deutschland und Polen, würden über Pakistan nach Afghanistan gelangen. Der 36-jährige Nuri machte sich im vergangenen Jahr mit seiner Frau und fünf Kindern auf den Weg nach Deutschland. Eine lebensgefährliche Flucht mit der Hilfe von Schlepperbanden. 36.000 Dollar hat Nuri dafür bezahlt. Es ging durch den Iran in die Türkei. Über das Mittelmeer nach Griechenland. Über die Balkanroute nach Deutschland. Erst kam er nach Dresden, dann nach Chemnitz.

Nuri gesteht, dass er sich damals mitreißen ließ von der großen afghanischen Flüchtlingsutopie. Auch er wollte die Chance auf ein besseres Leben in Sicherheit ergreifen. Doch nach der lebensgefährlichen Reise zeigte sich die Realität in deutlich düstereren Farben. Er schildert das Leben in der Fremde, redet von Sprachschwierigkeiten, dem Gefühl des Nichtstuns und der Arbeitslosigkeit, vom wachsenden Heimweh trotz des Kriegs zu Hause, von der lähmenden Trübsal nach der großen Euphorie, es geschafft zu haben.

Mit Hilfe der Vereinten Nationen machte er sich nach sieben Monaten freiwillig auf den Weg zurück nach Kabul. Und das bedeutete für Nuri zurück auf den alten Vogelmarkt in Kabul. Zu seinen Kanarienvögeln ins Familiengeschäft.

„In Deutschland sind die Menschen nicht so verrückt nach Vögeln wie zu Hause. Hier in Afghanistan sind die Vögel ein Teil unseres Lebens“, verdeutlicht Nuri. Als er noch im Aufnahmelager in Dresden wohnte, zog es ihn oft in die Tierhandlung eines großen Supermarkts, um dort dem Gesang der Kanarienvögel zu lauschen.




Quelle: Gebende Hände-Redaktion; nach einer Information von: „Deutschlandfunk“, dradio.de

Schlagwörter: Afghanistan, Vogelmarkt, Vögel, Wachteln, Kabul, Vogelkämpfe, Terror, Attentate, Frieden, Kanarienvögel, Gesang, Kampfwachtel, Rebhühner, Kampfhahn, Flucht, Flüchtlinge, Sicherheit, Heimweh, Aufnahmelager, Rückkehr