Afghanistan: Politik im Netz gegenseitiger Zwänge

Meldung vom 22.09.2016

Wutausbrüche, Meinungsverschiedenheiten, unerledigte Reformen: Wie Kinder verhalten sich die afghanischen Regierungspartner, sagen Kritiker. Und diese Schlammschlacht ereignet sich kurz vor einer Geberkonferenz in Brüssel. Doch Konsequenzen drohen wohl trotzdem nicht.

Begonnen hatte es am 11. August 2016. An diesem Tag war der afghanische Regierungsgeschäftsführer Abdullah Abdullah hinter das Rednerpult getreten und hatte seinen Partner wider Willen, Präsident Aschraf Ghani, beschimpft. Nicht fit für die Präsidentschaft nannte er ihn. Er lasse seinen Koalitionspartner einfach links liegen. Jetzt werde man endlich Druck ausüben, dass umgesetzt werde, was versprochen worden war.

Es sah aus, als sei nun die Grenze überschritten – als würde die Zwangspartnerschaft explodieren, die US-Außenminister John Kerry nach massiv umstrittenen Präsidentschaftswahlen 2014 hergestellt hatte. Und das in einem Land, in dem sowieso schon jeden Tag an jeder Ecke irgendwelche Sprengsätze hochgehen oder Taliban weitere Gebiete einnehmen. Krisentreffen wurden anberaumt. Diplomaten sprachen mit Engelszungen auf die beiden Streithähne ein, obwohl sie gleichzeitig zunehmend verärgert von einem „Kindergarten“ sprachen, von „Verantwortungslosigkeit“.

Zusätzlichen Druck übte ein im Koalitionsvertrag festgesetztes Datum aus. Nach zwei Jahren – also bis zum 19. September – müsse eine traditionelle Versammlung getagt haben, die entscheidet, ob Afghanistan statt des Behelfsamts des Regierungsgeschäftsführers einen Ministerpräsidenten Abdullah bekommt, lautet es da. Nach Lesart der Opposition, aber auch einiger Politiker aus dem Abdullah-Lager, müsste man daraus den Schluss ziehen, dass zum 19. quasi die ganze Regierung am Ende sei.

Fünf Wochen nach Abdullahs Rede existiert sie immer noch, die uneinige Einheitsregierung – aneinander gekoppelt durch äußeren wie inneren Druck. Abdullah selber hat das unheilvolle Ultimatum des 19. Septembers abgeschwächt und gesagt, ja natürlich gelte die Koalition darüber hinaus. Schlussfolgerung vieler Beobachter: An einem Eklat haben derzeit beide Seiten kein Interesse. Der Tadschike Abdullah habe zu viel Macht eingebüßt – ein Ausscheiden würde wohl seine politische Karriere beenden.

Der paschtunische Präsident wiederum finde bisher nicht so richtig einen anderen im tadschikischen Lager, mit dem er paktieren könne, um diese große ethnische Gruppe im Zaum zu halten. Die Grundstreitfrage lässt sich aber nicht weg reden: Wie soll sich die Machtteilung zwischen den beiden Wahl-„Siegern“ und damit den ethnischen Blöcken in der Praxis gestalten?

Während mittlerweile die offiziellen Posten der Regierung mehr oder minder halbe-halbe besetzt wurden, wie es im Koalitionsvertrag festgehalten worden war, beschuldigt Abdullah seinen Kontrahenten Ghani, die Macht von Abdullahs Anhängern zu beschneiden und loyale Parallelstrukturen zu schaffen. Dazu zählen zum Beispiel seine „Hohen Experten-Räte“, die alle planerische Verantwortung der Ministerien an sich rissen und die Minister zu reinen Befehlsempfängern herunterstuften, erklärt Timor Scharan vom Analyseinstitut Internationale Krisen-Gruppe (ICG).

Ein anderer Konfliktfaktor ist die im Koalitionsvertrag vereinbarte Wahlreform. Nach den von Korruptionsvorwürfen überschatteten Wahlen von 2014 haben sich beide Lager für ein neues System ausgesprochen. Beide wollten allerdings auch Veränderungen anbringen, die dem jeweils anderen nicht passen, weil sie dem Konkurrenten in Zukunft mehr Stimmen zuschachern könnten.

All das wirkt sich auch verstärkend auf die ethnischen Spannungen im Land aus. Trotzdem – die Gefahr eines Bürgerkriegs kommt derzeit wohl kaum auf. „Dazu haben sie alle zu viel zu verlieren. Alle Machthaber sind irgendwie miteinander und mit dem internationalen Geld verbunden – und das ist eng an diese Regierung geknüpft“, meinte ein westlicher Diplomat. Glücklicherweise sei die Opposition genauso uneins wie die Regierung.

Aber die Frage ist ja nicht nur, ob die Regierung zersplittert. Die Frage ist auch, was sie derzeit überhaupt leistet, solange sie hält, abseits des erschöpfenden Kampfes gegen die Taliban. Anfang Oktober 2016 findet in Brüssel die nächste große Geberkonferenz statt. Die Leistung der Regierung soll dann eigentlich die Grundlage für weitere Finanzierungshilfen sein.

Die Liste wirklich fassbarer Leistungen ist aber überschaubar. Bisher haben es die Taliban nicht geschafft, eine große Stadt einzunehmen. Die Staatseinnahmen sind jüngst gestiegen, allerdings durch Ursachen, die sich nicht unbedingt wiederholen lassen. Es wurde eine Serie technischer Reformen verabschiedet und eine neue zentrale Stelle geschaffen, die Korruptionsfälle prüft. Auf der Seite mit den Nachteilen stehen vor allem die lange überfälligen Parlamentswahlen.

2012 hatten die Geber Bedingungen an die Mittel für Afghanistan geknüpft, nach dem Motto „Geld gegen Reformen“ – aber dieses Konzept hat sich als zahnloser Tiger herausgestellt. Niemand nimmt das ernst. „Niemand hat ein Interesse daran, gerade jetzt ein Exempel zu statuieren“, weiß der Leiter der Friedrich-Ebert-Stiftung in Afghanistan, Alexey Yusupov.

Das liegt zum einen daran, dass die Sicherheit ab- und der Einfluss der Taliban im Land zunimmt. Aber auch ureigene, innenpolitische Gründe der Geber müssen dabei berücksichtigt werden. Erstens: Ein Kollaps der afghanischen Regierung würde mitten im Wahlkampf die US-Regierung in ungutes Licht setzen, die gerade den Truppenabzug aus Afghanistan unterbunden hat und weiter Milliarden ins Land investiert. Und: Die Migrationskrise, inklusive Hunderttausender afghanischer Flüchtlinge, hat auch das afghanistanmüde Europa aufgeschreckt. „Weniger Unterstützung für die Regierung würde mehr Rechtlosigkeit und damit noch mehr Flüchtlinge produzieren“, betonte ein westlicher Diplomat. „Die Geber wollen eine Regierung, die sich dazu bekennt, den Strom zu stoppen. Und das tut diese Regierung.“


Quelle: Gebende Hände-Redaktion; nach einer Information von: „Handelsblatt“, handelsblatt.com