Kenia: Dadaab – Wenn die weiß-blaue UNHCR-Flagge zur Heimatflagge wird

Meldung vom 05.09.2017

Man fröstelt an jenem Morgen in Dadaab, dem größten Flüchtlingslager der Welt. Amphile Kassim, von allen Anfi genannt, hockt im Schneidersitz auf einer dünnen Matratze und lässt die Vergangenheit vor seinem inneren Auge vorüberziehen. Er berichtet, wie er im Alter von zehn Jahren vertrieben wurde. Anfi, ein ethnischer Somali, und seine Familie haben sich vor Kämpfen in ihrer Heimatstadt in der äthiopischen Bale-Zone (heute: Oromia-Zone) in Sicherheit gebracht.

Damals, im Jahr 1974, sind seine Eltern mit Anfi und seinen Geschwistern im benachbarten Somalia untergekommen. Nachdem die dortige Zentralregierung 1991 in einem Putsch abgesetzt worden war, entschlossen sie sich erneut zur Flucht, diesmal führte ihr Weg nach Kenia. Sie suchten im Flüchtlingslager von Dadaab Schutz.

Seit mehr als zweieinhalb Jahrzehnten wohnt Anfi nun in Dadaab – in einem abgelegenen Camp im trockenen Nordosten von Kenia, in dem die ersten Flüchtlinge Unterschlupf fanden, nachdem die somalische Regierung auseinanderfiel und das Land von Clans und Terrorgruppen ins Chaos gestürzt worden war.

Inzwischen hält Dadaab den traurigen Rekord als größtes Flüchtlingscamp der Welt; zeitweise haben hier mehr als 600.000 Menschen aus mehr als einem Dutzend Ländern logiert. 95 Prozent der Flüchtlinge stammen aus Somalia wie Anfi. Den jüngsten Zahlen des Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen (UNHCR) zufolge bezeichnen mehr als 260.000 Somalis Dadaab als ihre Heimat.

Nach und nach stiehlt sich die Sonne durch die Ritzen des Lehmhauses, in dem Anfi wohnt; Anfi kann kaum etwas aus der Ruhe bringen. Als seine Familie damals aus Äthiopien nach Somalia geflohen sei, so Anfi, hätte er nicht damit gerechnet, so lange im Status eines Flüchtlings zu leben. Inzwischen ist er ein 52-jähriger Mann, die letzten vier Jahrzehnte seines Lebens hat er nichts anderes gekannt, als das Flüchtlingsdasein – er musste fliehen, wieder fliehen und viel warten.

Er wird nicht müde, zu betonen, dass die UNHCR, die dem Camp vorsteht, „seine Regierung“ sei, ihr habe er die Treue geschworen; das weiß-blaue UNHCR-Logo sei „seine Flagge“, und das Flüchtlingslager „sein einziges Land“.

So deutlich sich Anfi an seine Vergangenheit erinnert, so ungewiss ist seine Zukunft. Über zwei Jahrzehnte ist man den Flüchtlingen freundlich entgegengekommen, inzwischen ist die Atmosphäre in Dadaab merklich angespannt. Im November 2013 haben die kenianische und die somalische Regierung sowie das UNHCR ein Dreierabkommen abgeschlossen, das die freiwillige Rückführung somalischer Flüchtlinge aus Kenia vorsieht.

Vorgeschichte sind mehrere Anschläge, die die somalische Terrormiliz Al-Schabaab in Kenia verübte. Es gab Bomben-Attentate auf Kirchen, Busbahnhöfe und Nachtclubs. Im September 2013 wurden bei einem verheerenden Angriff auf das exklusive Westgate Einkaufszentrum in Nairobi 67 Menschen ermordet. Unmittelbar darauf zogen Vertreter der kenianischen Regierung Konsequenzen und forderten die Schließung von Dadaab; sie betitelten das Flüchtlingslager als „Brutstätte“ und „Kinderstube für Terroristen“.

Im April 2014 wurde die Operation Usalama Watch (Peace Watch) durchgeführt, in deren Verlauf nahezu 4.000 Menschen somalischer Herkunft in Vorstadtgebieten ergriffen wurden, die meisten von ihnen Flüchtlinge. Man wollte die Region von potenziellen Terroristen und Sympathisanten der Al-Schabaab säubern und sie abschieben.

Die Situation spitzte sich zu als am 2. April 2015 das Garissa University College im Nordosten von Kenia zum Ziel eines Anschlags wurde; der Terror ereignete sich gerade siebzig Meilen vom Flüchtlingscamp Dadaab entfernt. 148 Menschen, überwiegend Studenten, starben. Nach diesem Vorfall griff die Regierung durch: Der kenianische Vizepräsident William Ruto forderte die Schließung des Camps binnen drei Monaten.

Mit dem Anschlag auf das Garissa University College, so Anfi, wurde die Lage in Dadaab alptraumhaft: wachsende Ungewissheit, Vernachlässigung der sanitären Versorgung, Krankheiten, polizeiliche Übergriffe und noch dazu die drohende Zukunft mit all den Konsequenzen, die eine Rückführung für seine Familie bedeuten könne.

Anfi und Hunderttausende weitere Flüchtlinge sorgen sich nun darum, wie sich der Ort, den sie seit Jahrzehnten ihre Heimat nennen, in den nächsten Jahren entwickeln wird. Anfang März 2016 hat die kenianische Regierung das Department of Refugee Affairs geschlossen – eine Regierungsbehörde, die die Flüchtlingsregistrierung und -verwaltung zur Aufgabe hatte. Damit wurde die Schließung des Camps eingeleitet. Anfi erkannte, dass die Sache ernst wurde. „Aber wo soll ich hingehen?“

Nachgefragt, ob Anfi darüber nachgedacht hat, das Camp zu verlassen und anderswo sein Glück zu versuchen, sagt er, er habe in Erwägung gezogen, nach Boran zu gehen, eine Stadt in der autonomen Region Somaliland, dort habe er Freunde und könnte vielleicht an einen Arbeitsplatz kommen. Hat er mit dem Gedanken gespielt, in sein Geburtsland Äthiopien zurückzukehren? „Nein! Nein! Nein!“ Bei dieser Frage bekomme er Gänsehaut, presst er hervor und sein Gesicht verdüstert sich.

Wenig später hat Anfi die Sache jedoch innerlich geklärt, er will das Camp niemals verlassen. Trotz der schwierigen Umstände empfindet Anfi Trost an den kleinen Begebenheiten des Lebens: an seinen Enkelkindern, seinem Sohn, der gerade die Schule beendet hat, an seiner Tochter, die bald heiraten wird. Er freut sich an seiner Arbeit als Impfhelfer, er hat schon seit Jahrzehnten Jobs für verschiedene Organisationen angenommen. Doch wie Dadaab im kommenden Jahr aussehen wird, das ist derzeit kaum absehbar.


Quelle: Gebende Hände-Redaktion; nach einer Information von: „Berliner Zeitung“, berliner-zeitung.de