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Syrien: Gefügig gebombt

 
Meldung vom 20.04.2018

Syrien ist ein Schutthaufen, aber Diktator Assad gibt sich siegesbewusst. Journalisten will er nun zeigen, wie er sein Land erfolgreich befriedet hat. Dabei ist es gespenstisch.

Auf dem Platz vor der mittelalterlichen Zitadelle von Aleppo spielen an diesem Apriltag Kinder Fangen. Der Duft nach Apfeltee liegt in der Luft, an Ständen kann man tatsächlich Zuckerwatte am Stiel kaufen. Der Muezzin lädt mit seinem Singsang zum Mittagsgebet ein. Man könnte fast glauben, man befinde sich in einem friedlichen Alltagsleben. Fast.

Biegt man aber in einen staubigen Schotterweg ein, der vom Platz in die engen Gassen der Altstadt führt, ist von der Leichtigkeit keine Spur mehr. Die Häuser stehen hier dicht an dicht, doch von vielen ist die Hälfte eingefallen, manchmal steht nur noch eine Fassade oder eine halbe Treppe. Überall liegen Berge von Steinen und Dachziegeln. Unter den Trümmern muss man noch Leichen vermuten, es wird Jahre dauern, sie alle freizuschaufeln.

Zwischen der Zitadelle und der Altstadt zog sich jahrelang die Frontlinie, mitten durch die Stadt. Der Westen, einschließlich der Zitadelle, war in der Hand der Truppen des Regimes. Den Osten mitsamt der Altstadt verteidigten die Rebellen. Bis 2016 die Truppen des Regimes die Rebellen in Aleppo überwanden, kurz vor Weihnachten. Heute hat das Regime wieder die ganze Stadt im Griff: Im Westen, wo das schöne Bild der Normalität aufrechterhalten wurde, wo es Cafés und Läden entlang der belebten Straßen gibt. Und im Osten, wo viele Straßen von Schuttbergen blockiert sind, darin Überbleibsel ausgelöschter Leben: Matratzen, durchlöcherte Pullover, einzelne Flip Flops.

Drei Frauen, Schwestern, schreiten gemächlich an der Zitadelle vorüber. Die älteste von ihnen, eine Lehrerin um die 30, berichtet. Ihr Haus befinde sich nicht weit von hier, nahe der Front, die nun aufgelöst ist. Während der Gefechte durfte sie nach Anbruch der Dunkelheit ihre Wohnung nicht mehr verlassen, nachts schlugen Raketen in ihrem Viertel ein. Nun könnten sie sich wieder frei bewegen, sagt die Frau und zeigt ein bemühtes Lächeln. Dann wird ihr Blick starr. Sie erinnere sich oft an das Aleppo ihrer Jugend. Den Duft von Kardamom, der durch die engen Gassen des Basars strömte. Die Händler, die lautstark um Kundschaft buhlten. Das Gemurmel, das durch die Mauern der Hamams hörbar war. Das ist alles verschwunden, sagt sie leise. Man habe ihre Stadt, ihre Geschichte zerstört. Wer genau? Sie hält inne. Alle, meint sie dann.

Nirgendwo haben die Rebellen und das Regime sich so blutige Kämpfe geleistet wie in Aleppo. Seit das Regime hier den Sieg davontrug, ist es im ganzen Land auf dem Vormarsch, nehmen Baschar al-Assads Truppen ein Rebellengebiet nach dem anderen ein. Bis der Machthaber wieder ganz Syrien beherrscht, ist es wohl nur noch eine Frage der Zeit.

Hier, wo er triumphiert hat, inszeniert er das auch. In Aleppo hängen überlebensgroße Plakate des Präsidenten an der Zitadelle, an Ministerien, Schulen, Geschäften. Entlang der großen Straßen wurden Masten mit der syrischen Flagge aufgestellt. Militärpolizisten gehen auf und ab. Jedermann soll vor Augen geführt bekommen, wer jetzt wieder das Sagen hat.

Assad ist inzwischen wieder so selbstbewusst, dass er ausländische Journalisten ins Land einlässt. Wer in diesen Tagen nach Syrien reist, dem wird jener Ausschnitt gezeigt, den er offenbaren will: die Gebiete unter seiner Herrschaft, großflächig zerstört, aber beruhigt, mit Menschen, die sich nicht mehr über ihn erheben. Eine Aufpasserin der Regierung ist bei allen Interviews zugegen. Viele Befragte möchten daher anonym bleiben, auch bleiben die Antworten immer neutral gegenüber dem Staatsapparat. Die Gespräche verlaufen zwangsläufig distanziert.

Dass das Regime wieder Journalisten einlädt, hat auch mit Geld zu tun. Assad bemüht sich um eine positive Berichterstattung. Er will sein Land wieder aufbauen. Und dafür ist er auf ausländische Geldgeber angewiesen. Ende April 2018 wurde in Brüssel eine erste Geberkonferenz anberaumt. Wenn die Politiker sich dort versammeln, sollen sie Bilder im Kopf haben, die den Eindruck vermitteln, dass dieser Präsident vielleicht ein Despot ist und keine Freiheit verheißt, aber Stabilität.

Um bis nach Aleppo vorzudringen, muss man wegen der anhaltenden Kämpfe hinter Homs Umgehungsstraßen nehmen. Dort flankieren verwaiste Restaurants und Tankstellen mit Einschusslöchern den Weg. Vor jeder Ortseinfahrt und -ausfahrt muss man Checkpoints passieren, gelangweilt wirkende Soldaten lassen sich die Passierscheine vorzeigen.

Am Straßenrand harren Soldaten auf den Transport nach Hause oder zum nächsten Einsatz. Mit einem von ihnen entwickelt sich ein kurzes Gespräch. Vor sieben Jahren, zu Kriegsbeginn, hat er sich einberufen lassen. Er und seine Kameraden seien nun erleichtert, sagt er, der Krieg sei ja fast vorüber. Er berichtet von den Russen, die seine Einheit leiten, 30 Männer, die für die Syrer die Strategien für die Angriffe auf die letzten Rebellenenklaven planten. Nachdem der Kampf um Ghuta bei Damaskus erfolgreich war, solle Daraa im Süden „von den Terroristen gesäubert“ werden, meinte er. Für die Provinz Idlib im Norden sei dann der Endkampf bestimmt.

Für seine Angaben gibt es keine unabhängige Überprüfung, doch wie er stufen viele nicht nur die Kämpfer, sondern auch die in den Rebellengebieten verbliebenen Zivilisten als Terroristen ein, die es zu schlagen gilt. Die offizielle Botschaft lautet, das Regime kämpfe gegen den Terror und für den Weltfrieden, auch wenn der Westen das offenbar nicht erfasse.

Aleppo war vor dem Krieg ein Hauptstandort für die Industrie Syriens. Neben Sunniten und Schiiten wohnten hier Kurden und Turkmenen, 20 Prozent der Bevölkerung waren Christen. Vom Sommer 2012 bis Dezember 2016, viereinhalb Jahre, war die Stadt in einem permanenten Belagerungszustand. Die Rebellen feuerten Granaten nach Westaleppo, das Regime reagiert mit Bomben, Belagern, Aushungern. Am Ende warfen russische und syrische Jets Bomben auf die eingeschlossenen Kämpfer und Zivilisten in Ostaleppo, nahmen sogar Schulen, Wohnungen und Krankenhäuser ins Visier.

Dabei hatte alles so verheißungsvoll begonnen. Als 2011 junge Menschen in ganz Syrien auf den Straßen friedlich für Freiheit und gegen die Diktatur demonstrierten, spielte dabei auch ein Generationswechsel eine Rolle. Die Syrer haben seit Jahrzehnten nichts anderes gekannt als eine Diktatur. Seit 1963 ist die sozialistisch-nationalistische Baath-Partei an der Macht, seit dem Staatsstreich 1970 war Hafiz al-Assad Präsident, nach seinem Tod im Jahr 2000 übernahm sein Sohn Baschar die Führung. Der gewährte zu Beginn eine kurzzeitige Liberalisierung, änderte dann aber seinen politischen Kurs und wurde zunehmend diktatorisch.

Die Jungen wollten sich damit nicht abfinden. Sie bekamen mit, wie Polizisten auf Demonstranten schossen, Studenten in Foltergefängnissen verschwanden, wie erst moderate Kämpfer, dann Islamisten ihre Wohngebiete besetzten. Bald schlug das Regime die Demonstranten mit immer mehr Brutalität nieder, gleichzeitig zerfiel das ganze Land.

Die Hauptstadt des Regimes, Assads Wohnsitz und Plattform, ist Damaskus, dort befindet sich auf einem Hügel der Präsidentenpalast. In Bab Tuma, dem christlichen Viertel mit Ausgehmeile, herrscht bunter Trubel, spazieren Frauen an Bars vorbei, einige in kurzen Röcken, andere hinter dem Hidschab verborgen, und Männer mit Beckham-Frisur. Viele sind sich sicher, es dauere nur noch wenige Wochen, bis die Regierung ganz Syrien wieder in ihrer Gewalt habe und alles so werde wie früher. Doch der Krieg ist keineswegs schon entschieden.

Bei einer Fahrt durch die gerade vom Regime eingenommenen Gebiete in Ghuta erkennt man zu Trümmern gebombte Dörfer: zerborstene Betonplatten, wo Wohnhäuser eingestürzt sind, Autowracks, aus dem Boden gerissene Telefonmasten. Man darf das Auto nicht verlassen, durch die Scheiben aber kann man erkennen, wie syrische Soldaten die wenigen noch brauchbaren Besitztümer der Toten und Vertriebenen auf ihre Motorräder heben. Ein paar Bewohner, die den Angriffen getrotzt und sich verborgen gehalten hatten, hocken auf staubigen Plastikstühlen in den Straßen.

Alle anderen sind verschwunden, vertrieben. Frauen, Kinder und ältere Männer wurden in Lager des Regimes abtransportiert, wo sie wegen ihrer politischen Gesinnung verhört werden und dem Präsidenten einen neuen Treueeid schwören müssen.

In Damaskus bringt man den Notleidenden in Ghuta wenig Empathie entgegen. Als die ersten Dörfer besiegt wurden, habe man Bonbons in den Straßen verteilt, hätten Fremde sich die Hand gereicht und einander gratuliert, sagen sie hier. Die Menschen, die in den umkämpften Gebieten lebten, seien doch selbst schuld, ist so ein Satz, den man oft hört. Ein Mann, der in den USA lebt und gerade zu Besuch in Damaskus ist, betont, der Präsident habe Stärke bewiesen, er habe inzwischen wieder alles im Griff. Es habe nie eine Revolution existiert, das sei eine vom Ausland initiierte Verschwörung gewesen, um Syrien zu vernichten: von den Saudis, Katar, der Türkei, auch von den USA und Israel, also eigentlich von allen. Und der Präsident trage dabei keine Verantwortung? Kopfschütteln. Er habe nur die Syrer verteidigt. Ein anderer Mann kritisiert die westlichen Medien, die mit ihrer schlechten Bewertung über den Präsidenten das Land entzweien wollten. „Schreib die Wahrheit!“, fordert er noch lautstark.

Dennoch reden viele vom Krieg, als wären sie nur Zuschauer. Rund eine halbe Million Menschen sind in diesem Krieg umgekommen. Mehrere Millionen haben die Flucht ergriffen. Und dann sind da auch noch die, die physisch bleiben und trotzdem weggehen – wenn auch nur in Gedanken. Vielleicht geht das nicht anders, wenn man in Syrien überleben muss: sich in die eigene Welt zurückziehen, wegfiltern, was nicht zu ertragen ist.

Es gibt nicht wenige Menschen in Westaleppo, die seit dem Ende der Kämpfe keinen Fuß mehr in den Osten gesetzt haben. Die sich seit eineinhalb Jahren weigern, die wenigen Meter, die zwischen ihren intakten Häusern und dem Krieg liegen, zurückzulegen. Eine unauffällige Frau mittleren Alters hat sich vor ihrem Hauseingang nahe der einstigen Front postiert. Eine Ausnahme, sie gehe fast gar nicht mehr vor die Tür. Aleppo wolle sie so in Erinnerung behalten, wie es vor all der Zerstörung war. Deswegen bleibe sie in ihrem Wohnzimmer, sagt sie, und verfolge die Bilder nur im Fernsehen. So könne sie sich einreden, das alles geschehe bloß im Film.


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 Syrien: Eindrücke aus einem zerstörten Land




Quelle: Gebende Hände-Redaktion; nach einer Information von: „Die Zeit Online“, zeit.de

Schlagwörter: Syrien; Krieg, Bürgerkrieg, Trümmer, Ruinen, Baschar al-Assad, Diktatur, Regime, Aleppo, Ghuta, Widerstand, Rebellen, Verschwörung, Russland, USA, IS, Islamischer Staat, Diktatur, Foltergefängnisse, Sieg, Bomben, Bombardierung, Revolution, Medien, Pressefreiheit, Proteste, Damaskus, Homs