Äthiopien: Ethnische Kämpfe führen zu einem Massaker

Meldung vom 28.06.2022

In Äthiopien ist die politische Situation auf dem Siedepunkt. Erneut ist es zu folgenschweren ethnischen Kämpfen gekommen, die die Regierung weitergehend destabilisieren könnten. Oromo-Kämpfer töteten mindestens 230 Mitglieder des Amhara-Volkes.

Er allein habe 230 Leichen gezählt, berichtet Abdul-Seid Tahir: „Und wir finden immer weitere Tote, die wir in Massengräbern bestatten.“ Inzwischen seien in Tole Kebele, einem Dorf im westäthiopischen Wollega-Distrikt, Soldaten der Regierungsarmee eingetroffen, sagt der Farmer im Gespräch mit Medien: „Doch wenn die abziehen, geht das Morden weiter.“ Der Überfall am vergangenen Samstag (18.06.2022) sei der „blutigste Überfall auf Zivilisten“ gewesen, den er je erlebt habe, sagt Tahir: „Sie töten uns wie Hühner.“

Die Toten sind allesamt aus dem Volk der Amhara, die vor rund 30 Jahren im Wollega-Distrikt angesiedelt worden waren – eine Region im Land der Oromo. Diese Region beherrschen eigentlich die Kämpfer der Oromo-Befreiungsfront (OLF), die gegen die unitarische Politik des äthiopischen Regierungschefs Abiy Ahmed vorgehen: Sie wollen einen starken föderalen Staat verteidigen – mit weitgehendem Selbstbestimmungsrecht für die elf Provinzen.

Deshalb glaubt die Regierung in Addis Abeba, dass die OLF der Drahtzieher für das Massaker ist. Doch diese weist das von sich: Den Überfall habe eine mit der Regierung kooperierende Oromo-Miliz ausgeführt, gab OLF-Sprecher Odaa Tarbii auf Twitter bekannt. Diese Aussage scheint jedoch weit hergeholt.

Doch in Äthiopien ist derzeit nichts undenkbar. Ausgerechnet der etwas moderatere Kurs, den Premierminister Abiy in jüngster Zeit fährt, hat zu neuen Konflikten in dem ostafrikanischen Vielvölkerstaat geführt. Abiy hatte im März einen Waffenstillstand in der aufständischen Bürgerkriegsprovinz Tigray angeordnet und stellt erstmals seit Ausbruch der Kämpfe im November 2020 sogar Friedensgespräche mit der Volksbefreiungsfront Tigrays (TPLF) in Aussicht. Kürzlich berief der Premierminister eine Delegation, die mit der bislang als „Terroristenorganisation“ angesehenen TPLF ins Gespräch treten soll.

Das wiederum gefällt andern Konfliktparteien, die in den Krieg verwickelt waren, nicht: Auf Abiys Seite haben die Streitkräfte des Nachbarstaats Eritrea sowie die Milizen der an Tigray angrenzenden Amhara-Provinz mitgekämpft. Sie sind gegen Abiys plötzlichen Friedenskurs: Sie wollten die TPLF vollständig besiegt sehen. Zwischen Tigray und Amhara ist noch immer der Westen der Tigray-Provinz eine ungeklärte Region. Dort haben sich derzeit Amhara-Milizionäre und eritreische Soldaten „eingenistet“.

Die Region sei ihnen bei der Gründung des föderalen Staats vor mehr als 30 Jahren „gestohlen“ worden, beschweren sich die Amhara. Sollte es tatsächlich zu Friedensgesprächen kommen, stünde der besetzte Westen der Tigray-Provinz ganz oben auf der Agenda der zu klärenden Punkte. Ohne seine Rückgabe wird die TPLF zu keinem Frieden bereit sein

Der Kurswechsel des Präsidenten kam nicht ganz unerwartet. Äthiopien liegt wirtschaftlich am Boden, eine seit Jahren anhaltende Dürre erfordert dringend internationale Nahrungsmittelhilfe, Washington hat für den Fall, dass die militärischen Auseinandersetzungen anhalten, Sanktionen angedroht. Will Abiy Ahmed keine vollends zerstörtes Land regieren, muss er den Vielvölkerstaat befrieden – auch wenn er damit die Gunst der Amhara, und damit alter Verbündeter, verliert.

Ende Mai 2022 befahl der Regierungschef, in der Amhara-Provinz „aufzuräumen“: 4.000 nationalistische Vertreter des nach den Oromo zweitgrößten äthiopischen Volks wurden festgenommen. Seitdem sind die Amhara-Milizen im Alarmzustand. Ein Massaker an Angehörigen in der Oromo-Provinz lebender Amhara muss unter solchen Bedingungen wie ein Streichholz über einem Ölkanister wirken.


Quelle: Gebende Hände-Redaktion; nach einer Information von: „Der Standard“, derStandard.at