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Äthiopien: Die blauen Netze (Einsatzbericht)

Bericht vom 25.09.2019


Flüchtlingsmutter vor ihrer „Behausung“.


Teamleiter Monte bei der Verteiliung der Hilfsgüter.


Immer mehr Flüchtlinge strömen herbei.


Vier Quadratmeter „Schatten“!


Im Mai dieses Jahres brachte unser Einsatzleiter Derek H. in Begleitung seiner Ehefrau Sandy sowie Teamleiter Monte W. wie schon so oft Hilfsgüter in eine verlassene Region Äthiopiens. Was er während des Transportes und vor Ort erlebte, war nervenaufreibend und gefährlich. Von diesem Einsatz stellte uns Derek freundlicherweise seine Tagebuchnotizen zur Verfügung. Lassen Sie, liebe Leser und Spender, sich mitnehmen auf eine hochgefährliche und nervenaufreibende Reise in eine isolierte, abgelegene Region Äthiopiens:

Mai 2019, Dire Dawe, 6.30 Uhr: Monte, Sandy und ich klettern in das 16 Jahre alte Allrad-Vehikel. Draußen ist es schon sehr warm, zum Glück hat der Wagen eine funktionierende Klimaanlage. Unsere Fahrt über 130 km holprige, sandige Wüstenpisten beginnt. Nach schier endlos erscheinenden viereinhalb Stunden erreichen wir unser Ziel. Auf Kamelen wären wir vermutlich komfortabler gereist…

Zu diesem Zeitpunkt haben wir bereits drei Wochen Planung, Besprechung und Organisation des Einsatzes hinter uns. Unser einheimisches Helferteam hat viele Hundert Kilometer zurückgelegt, um in verschiedenen Gebieten Nordost-Äthiopiens unsere bewährten Bedarfs-Einschätzungen vorzunehmen. Bei diesen Einschätzungen richten wir uns nach der grundlegenden Zielsetzung, dass diejenigen Hilfe bekommen, die sie am dringendsten benötigen. Das sind Inlandsflüchtlinge, die aus unterschiedlichen Gründen schon länger aus ihrer Heimat vertrieben wurden und bisher von keiner Seite Hilfe bekamen. Aber auch die neu Hinzugekommenen werden berücksichtigt. Mit ca. 2,8 Millionen hat Äthiopien derzeit die weltweit größte Population an Inlandsflüchtlingen.

Fünf Tage vorher: Ein sichtlich angespannter Abdo schickt mir Fotos und GPS-Koordinaten. Er hat einen abgelegenen, völlig isolierten Ort ausfindig gemacht, der gerade von Hunderten Menschen überschwemmt wird, die vor Unruhen in ihrer Heimatregion geflohen sind. Das Einzige, was sie bisher bekommen haben sind – blaue Netze!

Vier Tage vorher: Die üblichen Preisverhandlungen und das Feilschen um die besten Lebensmittelpreise ziehen sich, bis ich irgendwann zufrieden bin. Die Bestellung von Reis (33.000 kg) und Öl für rund 1.000 geflüchtete Familien ist abgeschlossen.

Ein Tag vorher: Die vier LKW sind mit den Hilfsgütern beladen und fahren los, damit sie rechtzeitig am Verteilungsort sind, wenn wir eintreffen.

Auch wir brechen nun auf, ein zweites Allrad-Fahrzeug mit den Sicherheitsleuten an Bord folgt uns. Nach 20 Minuten erreichen wir die an Äthiopien grenzende Region Somaliland. Ich mache mir doch ein wenig Sorgen und bin unruhiger als sonst. Unser amerikanischer Teamleiter begleitet uns wieder, und ich bin verantwortlich für seine Sicherheit und sein Wohlbefinden.

Wir durchfahren nun streng muslimisches Gebiet, es ist Ramadan. Eine knappe Stunde später erreichen wir eine kleine Stadt. Linkerhand ist ein großer blauer LKW voller Hilfsgüter geparkt – das ist doch unser LKW! Wir halten an. Abdo und seine Leute verschwinden, die unvermeidlichen Gespräche und Diskussionen nehmen ihren Lauf. Dann taucht Abdo wieder auf und teilt mit, der Ortsvorsteher habe ihm gesagt, sie hätten ebenfalls Inlandsflüchtlinge in der Stadt, die auch Hilfe bräuchten. Deshalb werde er den LKW behalten und die Hilfsgüter an sie verteilen. Die übrigen drei LKW hätten in der Nacht schon weiterfahren dürfen. Das ist ein unverhohlener Versuch, sich unseres LKWs und unserer Hilfsgüter zu bemächtigen!

Das werde ich nicht zulassen, seit vier Jahren schon helfen wir in dieser Gegend, viele Tausend Familien haben profitiert. Wenn er unseren LKW nicht passieren lässt, wird der nach Dire zurückfahren. Dort werden wir den Vorfall an Regierungsstellen melden, und wir werden nie wieder in diese Region zurückkommen. Das Rechtsstaatsprinzip scheint hier nicht zu gelten.

Der Ortsvorsteher will mit uns reden. Abdo steigt wieder ein, und wir fahren zum Büro der Bezirksregierung. Die Stimmung ist angespannt. Monte und Sandy warten im Auto, diese Art von Konfrontation kann anstrengend und riskant werden. Das Büro ist ein heruntergekommener schmutziger Raum mit ein paar Staatsflaggen, Namensplaketten und verblichenen Fotografien früherer Amtsträger. Der Ortsvorsteher – flankiert von Sicherheitsleuten – spricht laut in Somali, fast schreit er. Die Atmosphäre ist einschüchternd und bedrohlich. Ich kann nicht verstehen, worüber genau gestritten wird. Mein Gefühl sagt mir, dass dieser Hilfseinsatz vielleicht gar nicht stattfinden wird, eine Möglichkeit, mit der man vor Ort durchaus rechnen muss. Bei humanitären Einsätzen mit Tonnen von Hilfsgütern sind Machtspiele an der Tagesordnung, weil Regierungsbeamte, Bürgermeister oder Ortsvorsteher sich ein zusätzliches Einkommen erhoffen. Leider sind sie stets Ursache für eine Menge zusätzlicher Anspannung und Unsicherheit.

Der Ortsvorsteher wendet sich an mich und sagt auf Englisch: „Das ist eine sehr ernste und gefährliche Situation, hier draußen gibt es auch schon mal Verwundete.“ Damit hat er durchaus recht, er sagt es aber mehr, um seine Macht zu zeigen, und weniger aus Besorgnis. Erst, als ich ihm sage, dass wir nur wiederkommen, wenn er alle vier LKW passieren lässt und die Hilfsgüter den Menschen zukommen, für die sie bestimmt waren, lässt er uns endlich gehen.

Unsere nicht enden wollende Fahrt geht also tatsächlich weiter, bis wir eine wahrhaft gottverlassene Gegend in der Wüste erreichen. Wir können einige größere Gebilde aus Holz und Zweigen erkennen, die mit Plastik und Tüchern abgedeckt sind. Abdo fährt langsam weiter, und dann tut sich vor uns ein Meer von hunderten über krumme Hölzer gespannten blauen Netzen auf. Dazu das Farbgewoge der traditionellen Gewänder der Frauen.

Es ist brütend heiß draußen, die Gegebenheiten sind extrem lebensfeindlich. Immer mehr Menschen tauchen auf aus dem Nirgendwo, zuerst ein paar Dutzend, dann ein paar Hundert, dann sind es schon über Tausend, die Menge wächst schnell!

Ich mache diese Arbeit nun schon seit rund 25 Jahren, habe Schlimmes gesehen und die unterschiedlichsten Situationen erlebt. Aber das hier ist vollkommen unwirklich, beinahe wie ein Film-Set. Es dauert eine ganze Weile, bis sich die traurige Realität dieser Szenerie ihrem Betrachter völlig erschließt: Diese kleinen blauen Netze, keine vier Quadratmeter groß, über Stöcke gespannt, sind ALLES, was die Leute hier besitzen! Und sie bieten keinerlei Privatsphäre, keinen Schutz vor der glühenden Sonne, vor Wind oder Regen, noch irgendeine Form von Sicherheit. Aber das ist jetzt ihr einziges „Zuhause“. Heute Nacht werden sie hier im Sand schlafen, unter diesem fadenscheinigen blauen „Dach“.

Es gibt kein fließendes Wasser, keine sanitären Einrichtungen. Die Kinder sind so schmutzig, dass man sie riechen kann. Die leuchtend bunten Gewänder der Frauen – in eigenartigem Kontrast zur fahlen, öden Weite um sie herum – sind seit deren Flucht vor den Unruhen auf dem über 150 km langem Fußmarsch ungewaschen geblieben.

Die Hoffnungslosigkeit dieser Menschen wird nun überdeutlich. Es sind schon ein paar tausend Flüchtlinge hier, und täglich kommen zahlreiche weitere Familien hinzu, die absolut nichts mehr besitzen, außer den wenigen Dingen, die wir mitgebracht haben. Ihr blindes Vertrauen in uns als ihre einzigen Retter übersteigt beinahe unsere Kräfte.

In dieser verzweifelten Lage muss ich mich aufs Äußerste zusammenreißen, mich scharf auf die aktuelle Situation konzentrieren, die Signale aus der Menschenmenge erspüren. Die Stimmung kann jeden Moment umschlagen. Die LKWs stehen bereit, die übrigen Fahrzeuge und die Sicherheitsleute sind strategisch so positioniert, dass wir im Falle einer Panik den Platz schnell räumen können. Ich bin froh, Sandy dabei zu haben. Sie hält das Geschehen fotografisch fest. So kann ich mich um Logistik, Sicherheit und meine Leute kümmern. Herausforderungen gibt es bei unseren Einsätzen immer genug.

Eine Gruppe von Kindern folgt Sandy auf ihrem Weg durch das Meer der blauen Netze. Abdo und ich versuchen, sie beim Arbeiten im Blick zu behalten, aber hin und wieder taucht sie in der Menge unter. Ich halte Ausschau nach Monte, sehe ihn sicher bei den Lkws. Er hat im Laufe der Zeit gelernt, sich abseits der hungernden Menschenmassen zu halten. Jeder von uns weiß, wohin er sich retten kann, falls die Situation außer Kontrolle gerät.

Der Strom der Inlandsflüchtlinge reißt nicht ab, die Zahl der Hilfesuchenden nimmt dramatische Ausmaße an. Wir haben die LKWs entladen, die Hilfsgüter sind verteilt, Freude und Zufriedenheit bei denen, die ihre Ration bekommen haben. Die euphorische Stimmung schlägt allerdings schnell um, als diejenigen ohne Berechtigungskarte merken, dass sie leer ausgehen werden. Die Berechtigungskarten werden schon einige Tage vor der Verteilung an ausgewählte Familien ausgegeben, um die Hilfsaktion bestmöglich unter Kontrolle zu behalten. Diese Vorgehensweise ist bei humanitären Einsätzen üblich, aber natürlich nicht vollkommen risikolos, immer kommen auch Menschen, die nichts erhalten. Und dann wird es spannend und teilweise gefährlich für uns, dann müssen wir den Einsatz schnell beenden, um unbeschadet zurück zu kommen.

Wir sind schweißgebadet, schmutzig und erschöpft, aber wir haben unser Ziel erreicht! Trotz größter Herausforderungen und Gefahren haben wir 1.000 völlig mittellosen Familien in diesem verlassenen Landstrich Äthiopiens Überlebenshilfe gebracht. Wenn ich an die Frauen und Kinder denke, die mit leeren Händen unter ihre blauen Netze zurückkehren mussten, bin ich traurig und enttäuscht. Ich weiß, ich werde wiederkommen!

Liebe Spender von Gebende Hände, gemeinsam mit uns haben Sie diese Überlebenshilfe ermöglicht, ein herzliches Dankeschön dafür!



Schlagwörter: Äthiopien, Flüchtlinge, Flüchtlingslager, Dürre, Hunger, Somaliland, Hilfsgüter, Hilfsgütereinsatz