Äthiopien: Im Schatten der digitalen Welt – Laptops statt Lehrer

Meldung vom 22.08.2013

Wer es schafft, zu dem äthiopischen Dorf Wonchi vorzudringen, sucht vergeblich nach Straßenschildern. Aber stattdessen wird er Kinder mit Tablet-PCs vorfinden. US-Forscher haben hier ein Experiment gestartet. Können Computer Lehrer ersetzen?

Abebech reinigt den Bildschirm ihres Tablet-Computers mit Spucke. Dann sortieren ihre Finger mit flinkem Tippen die Buchstaben O, W und C über dem Bild einer Kuh in die richtige Reihenfolge: „COW“ ist am Ende zu lesen, das englische Wort für Rind. Der Computer zollt Abebech Anerkennung, indem er mit breitem amerikanischen Akzent „awesome!“ tönt, fantastisch. Die zehnjährige Äthiopierin grinst die Maschine an, dann fügt sie T, A und C zu „CAT“ zusammen, Katze. Noch mal tönt es „awesome!“.

Abebech ist eines von 20 Kindern im abgelegenen äthiopischen Dorf Wonchi, das mit modernen Computern und ohne Lehrer Bildung erhalten soll. Die Organisation One Laptop per Child geht davon aus, dass die flachen Rechner den 100 Millionen Kindern weltweit, die vom Schulunterricht ausgeschlossen sind, weil sie auf dem Land leben oder zu arm sind, den Weg ins Informationszeitalter ebnen kann – eben indem sie „pro Kind ein Laptop“ aushändigt, oder eben auch Tablet-PCs, die noch aktueller sind. Aber sind die Geräte vom Typ eines iPads tatsächlich das, was den Kindern hier am meisten fehlt?

Abebech zittert, während sie vor der grasgedeckten Hütte aus Eukalyptusstämmen und Lehm vor ihrem Laptop sitzt und die Buchstaben R, O, H, E, S zu „HORSE“ zusammensetzt. Ein kalter Wind weht hier auf 3.400 Meter Höhe über den Kraterrand des erloschenen Vulkans, der Wonchi heißt wie das Dorf. Das Mädchen hat keine Schuhe, an ihrem löchrigen Kleid kann man die Farbe nur noch vermuten. Mehr hat sie nicht, um sich zu wärmen. Man erkennt Gänsehaut an ihren mageren Armen, ihr Atem rasselt. Doch wenn man die Zehnjährige fragt, was ihr lieber ist, warme Kleider oder ihr Tablet, antwortet sie hustend und ohne zu zögern: „Computera“.

Computera, so bezeichnen die Kinder von Wonchi die Rechner, Modell Motorola Zoom, die Forscher des renommierten Massachusetts Institute of Technology (MIT) vor eineinhalb Jahren im Dorf abluden. Kinder und Computer gehören zu einem umstrittenen Experiment. Die Frage stellt sich: Was passiert, wenn man Kinder, die nie Unterricht erhalten haben, mit einem Tablet allein lässt? Werden die vom Rest der Welt abgeschnittenen Jungen und Mädchen die digitale Kluft zwischen Erster und Dritter Welt überbrücken können? Schenkt der Computer auch Kindern aus Entwicklungsländern Bildungsmöglichkeiten und den Anschluss an die digitale Welt?

„Jedes Mal, wenn ich komme, bin ich völlig verblüfft, was sie sich alles selbst beigebracht haben“, meint Software-Entwickler Mike Girma. Nachdem Mike die Lernfortschritte den Forschern in den USA vermittelte, schwärmte Nicholas Negroponte, der Gründer von One Laptop per Child: „Ich dachte, die Kinder würden mit den Verpackungen spielen. Doch schon nach vier Minuten hatte ein Kind den Karton geöffnet, den Einschaltknopf gefunden und gedrückt. Nach fünf Tagen benutzen sie 47 Apps pro Tag. Nach zwei Wochen sangen sie im Dorf ABC-Lieder und nach fünf Monaten hatten sie das Betriebssystem Android gehackt.“ Dieser Erfolg sei umso bemerkenswerter für Wonchi, da es nicht einmal gedruckte Schilder oder Wörter auf Flaschen gibt.

Software-Entwickler Mike Girma steht völlig hinter dem Ansatz, dass die Laptops zur Bildung unverzichtbar sind: „Nur Bildung kann Äthiopien helfen, sich endlich aus der Armut zu befreien“, meint er. „Aber es gibt in unserem Land einfach zu viele abgelegene Regionen, in denen auch in den nächsten Jahren keine Schule gebaut werden wird. Tablets kann man überall hinbringen“, bekräftigt der Informatiker.

Doch was passiert, wenn das Experiment ausläuft? Der „Computera“ hat den Jungs und Mädchen den Einblick in eine andere Welt ermöglicht. Die meisten wollen jetzt aus ihrem Dorf am Kraterrand auswandern, um in der Stadt Fahrer, Ärzte oder Computerexperten zu werden. Werden die Kinder nach Ablauf des Experiments mit ihren Träumen und ihren Tablets sich selbst überlassen?

„Sie dürfen die Tablets behalten“, meint Matt Keller von One Laptop per Child. Das war es aber auch. Die Amerikaner sind guter Dinge, dass die äthiopische Regierung in den nächsten Jahren eine Schule in der Nähe des Kraters eröffnen wird. Ob die „Computeras“ funktionieren, bis lebende Lehrer in Wonchi eintreffen, kann keiner sagen.


Quelle: Gebende Hände-Redaktion; nach einer Information von: „Welt Online“, welt.de